Als soziale Räume sind Kneipen eng mit dem im 19. Jahrhundert rasant wachsenden Arbeiter-Milieu verbunden. Nach anstrengenden Schichten in Fabriken, Bergwerken oder Industriehäfen kamen die Männer alltäglich in Wirtshäusern zusammen – oft auch, um den beengten Verhältnissen in den eigenen vier Wänden zu entkommen. „Viele Personen, insbesondere aus der Arbeiterklasse, wohnten unter hygienisch miserablen Bedingungen. Die Wohnungen waren wahnsinnig klein, meist sprangen viele Kinder darin herum und andere Arbeiter übernachteten dort als Schlafgänger“, beschreibt Heying. Die Kneipe sei ein wichtiger Ort gewesen, um wenigstens etwas Bewegungsfreiheit zu erfahren.
Alkoholismus als Problem
Wenig überraschend spielte dabei auch der Alkohol eine fatale Rolle. Gesoffen wurde viel und immer – jedoch nicht nur von Arbeitern, sondern von Frauen und Männern aus sämtlichen Schichten. Ähnlich wie in den USA existierte deshalb auch im Deutschen Reich eine engagierte Anti-Alkohol-Bewegung. Rufe nach einer Prohibition amerikanischen Vorbilds wurden jedoch nur selten laut. „Man kann mit Polizeigewalt kein Volk glücklich machen, erst muss die sittliche Auffassung veredelt werden“, verlautbarte etwa 1921 der „Reichsausschuss Deutscher Katholiken gegen den Alkoholmißbrauch“. Er bezweifelte, dass jemand „allen Ernstes der Ansicht sein kann, es gebe eine deutsche Gemütlichkeit auch ohne Bier und Traubensaft“.
Stattdessen richteten die Sittenwächter fragwürdige Appelle an die Lebenspartnerinnen durstiger Arbeiter, erklärt Heying: „Die Frau sollte dem Mann ein gutes Heim bereiten, damit der gar nicht erst auf die Idee kommt, in die Kneipe zu gehen und zu trinken.“ Hilfreicher als solche Forderungen dürften wohl sogenannte Trinkerasyle gewesen sein, die sukzessive ab Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum für Frauen wie Männer entstanden.
Ort für Protest und Politik
Die Aufgabe von Kneipen ging aber weit über die Versorgung mit Bier und Branntwein hinaus. In Bezug auf Duisburger und Hamburger Hafenkneipen ist zum Beispiel belegt, dass sie als wichtige Jobbörsen für die Schiffer fungierten. Auch die im 19. Jahrhundert erstarkende Parteienlandschaft traf sich in Kneipen – und das oft heimlich: Vor allem die ab 1878 verbotene sozialdemokratische Bewegung konspirierte in den Hinterzimmern von Gaststätten. Auch das kulturelle Leben florierte dort. Stammtische, Sparvereine, Studentenverbindungen. Alle möglichen Milieus und Gruppierungen fanden in Kneipen ihren gewohnten Treffpunkt. „Oder auch einfach mal ein Telefon, um mit anderen zu kommunizieren!“, erinnert Heying an die damals noch rudimentäre Technik.
Zwischen Illegalität…
Auch dem Verbrechen boten die Schenken Unterschlupf. In den wachsenden Metropolen breiteten sich Zuhälterei, Gewalt und organisierte Kriminalität aus. Eine Gefahr für alle vermeintlich reinen Westen: „Vor und im Ersten Weltkrieg war es Militärs deshalb verboten, bestimmte Kneipen aufzusuchen. Etwa wenn klar war, dass ein Wirt Sozialdemokrat ist oder bei ihm Prostitution stattfindet.“ Sein Etablissement landete dann auf einer roten Liste. Das sollte die Soldaten vor unsittlicher Unterwanderung schützen. Umgekehrt fand die Halbwelt wieder und wieder Wege, um sich gegen unerwünschte Infiltration zu wehren. Wurde nach der Sperrstunde noch gezecht, konnten die Wirtsleute einfach behaupten, es handele sich um eine „geschlossene Gesellschaft“. Die Polizei musste es meist hinnehmen. „Man darf nicht unterschätzen, welche Macht die Wirtinnen und Wirte teils hatten“, betont die Historikerin.
…und individueller Befreiung
Das Leben unter dem spießbürgerlichen Radar hatte für viele Menschen etwas Befreiendes. Die „Wilden Zwanziger“ tragen ihren Namen auch wegen der enthemmten Vergnügungskultur, die sich in den reichsdeutschen Großstädten – vor allem in Berlin – bahnbrach. Mitunter wurden Kneipen, Bars und Clubs zu Zufluchtsorten für Nonkonformistinnen und Nonkonformisten. Hier konnten sich beispielsweise queere Menschen, Kunstschaffende und subversive Geister ungestraft entfalten.
„Kneipensterben“ ist real
Heute gibt es viel weniger Kneipen als damals. Für die breite Masse haben sie stark an Relevanz verloren. Kaum jemand setzt sich noch täglich an den Tresen. „Die Bedeutung des sozialen Raums hat abgenommen, etwa weil wir alle mit dem Internet verbunden sind“, nennt Heying einen Grund. Doch eine gewisse Faszination ist trotzdem geblieben: „Wenn ich erzähle, woran ich forsche, haben die Leute oft leuchtende Augen und sagen mir, wie wichtig sie Kneipen finden.“
Lehrgebiet „Geschichte der Europäischen Moderne“ (Prof. Dr. Alexandra Przyrembel)
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vielen Dank für Ihr Interesse und den spannenden Literaturtipp, den ich Frau Dr. Heying gerne weitergeleitet habe. (Hans Ostwald ist ihr bekannt, der entsprechende Band mit seinem spezifischen Berlinbezug noch nicht. Wird bei Gelegenheit angeschaut!)
Viele Grüße aus dem Ruhrgebiet an den Main,
Benedikt Reuse
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sehr geehrter Herr Reuse,
es ist gewiss eine Frage der Definition was der Mensch unter "deutscher Gemütlichkeit" versteht. Ein Leben ohne Bier und Wein, sprich Alkohol, ist jedenfalls möglich. Ob es erstrebenswert ist, bleibt jedem selbst überlassen
Ich kann im Kontext dieses Habilitationsprojekts die Lektüre des 2020 im Berliner Galiani-Verlag veröffentlichte Buch "BERLIN - Anfänge einer Großstadt, Szenen und Reportagen 1904-1908" empfehlen. Der Chronist des frühen Berlins, Hans Ostwald, wurde von dem Herausgeber des Buches neu entdeckt. Thematisch passen die wieder veröffentlichten Texte, in Kapiteln wie "Orte modernsten Lebens" oder "Die sittlichen und sozialen Zustände" scheinbar in idealer Weise zu diesem Projekt.