Der Schalttechnik-Lehrling Walter Klingenbeck aus München war gerade 16 Jahre alt, als er sich 1941 mit anderen katholischen Lehrlingen zusammenschloss, um etwas gegen die Nationalsozialisten zu unternehmen. Die Gruppe um Walter Klingenbeck baute einen eigenen Schwarzsender auf, malte Victory-Zeichen an Häuserwände und tüftelte an einem ferngesteuerten Modellflugzeug, mit dem sie Flugblätter über München abwerfen wollten. Doch Klingenbeck und seine Freunde flogen auf und wurden verhaftet, er selbst wurde zum Tode verurteilt und im Alter von 19 Jahren hingerichtet. Weil er in den Verhören die Hauptschuld auf sich nahm, wurden seine Freunde begnadigt. Am 5. August 2023 jährt sich sein Todestag zum 80. Mal. Aufgrund seiner christlichen Überzeugung und seines selbstlosen Opfers hat die katholische Kirche eine Kommission mit einer Voruntersuchung für ein mögliches Seligsprechungsverfahren beauftragt. Der Kommission gehört die Historikerin Dr. Denise Reitzenstein (LMU München) an. Mit ihr und Dr. Johannes Modesto (Erzbistum München und Freising) haben wir über Walter Klingenbeck, sein Andenken und die mögliche Seligsprechung gesprochen.
"Wie stark Glaube sein kann, um für die eigenen Überzeugungen in den Tod zu gehen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Reitzenstein. Vor einigen Wochen sprachen wir schon einmal zum Thema "Mythos Sparta" in unserer Reihe geschichtlich gesprochen. Sie sind von Haus aus Althistorikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Warum interessiert sich eine Althistorikerin für einen Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus?
Dr. Reitzenstein: Diese Frage habe ich mir nach dem 75. Todestag immer wieder gestellt. Unabhängig von meinem Schwerpunkt in der Alten Geschichte mischen sich mehrere Impulse, die für die Generation der Kriegsenkel:innen, zu der ich gehöre, sicherlich nicht ungewöhnlich sind: Schon als Schülerin erfuhr ich vom Widerstand der Weißen Rose, war die erste mit Abitur in der Familie, hatte an der Ludwig-Maximilians-Universität studiert und die Arbeit der DenkStätte Weiße Rose kennengelernt. Als ich meine erste Vorlesung als Dozentin in einem Hörsaal just neben derjenigen Brüstung hielt, von der die Flugblätter der Weißen Rose in den Lichthof des Hauptgebäudes gesegelt waren, konnte mich das Schicksal der Weißen Rose durch meine Vorbildung berühren. Mich hat dieses Wissen mal mehr, mal weniger ergriffen, mit zunehmendem Alter allerdings eher mehr, etwa als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dieses Jahr die Weiße Rose Gedächtnisvorlesung hielt und ihren Widerstand würdigte.
Immer wieder frage ich mich auch: Warum habe ich so viel von der Weißen Rose erfahren, aber nichts vom Widerstand Walter Klingenbecks? Warum wusste ich als Studentin nichts davon, dass im Hinterhaus desjenigen Cafés, in dem ich mich regelmäßig mit engen Studienfreundinnen traf, ein Jugendlicher gelebt hatte, der seinen Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit dem Leben bezahlt hatte? Warum kannte ich die Idee des Klingenbeck-Kreises von einem ferngesteuerten Flugzeug nicht, mit dem Flugblätter gegen die Nationalsozialisten verteilt werden sollten? Dass in unmittelbarer Nähe die Weiße Rose, Walter Klingenbeck mit mindestens drei weiteren Jugendlichen, aber auch Georg Elser oder Paula und Hermann Frieb, also mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten des Widerstands mit teils überlappenden, teils völlig unterschiedlichen Motiven gegen den Nationalsozialismus kämpften, fasziniert mich.
Erst vor kurzem habe ich erfahren, dass Eva-Maria Buch in Berlin als katholisch geprägte Widerstandskämpferin ganz ähnlich ungesehen ist und an demselben Tag wie Walter Klingenbeck hingerichtet wurde, sich also auch ihr Todestag am 5. August 2023 zum 80. Mal jährt. Daher interessieren mich immer auch die unterschiedlichen Triebkräfte der Erinnerungskultur: überlebende Familienmitglieder, Freunde und Bekannte, andere Widerstandskämpfer:innen, Wissenschaft, Journalismus, Politik, Zivilgesellschaft, Glaubensgemeinschaften wie eben auch die christlichen Kirchen, konkret die katholische Kirche.
Als Althistorikerin besteht für mich eine gewisse Faszination darin, im Falle der katholischen Kirche mit einer Institution zusammenzuarbeiten, die für Kontinuität bis in die Antike steht. Außerdem ist auch die Arbeit in der Alten Geschichte stets von neuzeitlichen Vorstellungen geprägt, was ich bei meiner Beschäftigung mit dem antiken Sparta und damit verbundenen Geschlechtervorstellungen merke, die oft noch auf Lesarten des Deutschen Kaiserreichs oder des Nationalsozialismus zurückgehen. Als Bildungsaufsteigerin und Enkelin eines Großvaters, der seine Erinnerungen an den Krieg schriftlich festhielt und unter anderem reflektierte, warum er sich zu den Nationalsozialisten hingerissen fühlte und freiwillig als Soldat meldete, interessiert mich, warum Familien erinnern oder vergessen, gedenken oder verdrängen. Und als Mensch berührt mich die Frage, wie stark Glaube sein kann, um für die eigenen Überzeugungen in den Tod zu gehen.