L.I.S.A.: Ihr Projekt bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Archäologie, Geschichtswissenschaft und Philologie – man möchte fast Altertumswissenschaften oder Classics dazu sagen. Würden Sie das auch so sehen und was versprechen Sie sich von diesem Ansatz im Gegensatz zu einem disziplinären Zugriff durch beispielsweise Grabung oder Survey?
Dr. Schreyer: Unterschiedliche Disziplinen und Methoden zu kombinieren, hat im Fall antiker Deurbanisierung einen ganz konkreten Nutzen. Hätten wir nur die Ergebnisse von Ausgrabungen und Prospektionen, könnten wir zwar beispielsweise feststellen, dass die menschlichen Aktivitäten auf dem Areal einer antiken Stadt ab einem bestimmten Zeitpunkt abnehmen und sich vielleicht auf einen kleinen Teil des früheren Stadtgebietes konzentrieren. Wie eine solche Stadtruine aber von einem antiken Bewohner oder Reisenden gesehen wurde, dazu sagen uns die archäologischen Überreste nichts. Auf der anderen Seite sind zahlreiche antike Texte überliefert, die Städte anhand ihrer Ruinen beurteilen. Ein ganz konkretes Beispiel: Wie der kaiserzeitliche Rhetor Dion Chrysostomos überliefert, kam es in der Stadt Prusa zu Diskussionen, wie mit einer verfallenden Schmiede im Stadtgebiet umgegangen werden sollte. Auf der einen Seite wurde das Bauwerk als altehrwürdiger Erinnerungsort wahrgenommen. Die gegnerische Partei wiederum sah in ihr einen Schandfleck, der Aussehen und Ansehen der gesamten Stadt in Mitleidenschaft zog. Beispiele wie dieses zeigen uns, welche Interpretationsspielräume städtische Ruinen bereithielten. Zugleich wissen wir aber nur zu gut, dass rhetorische Zuspitzungen nur bedingt den gesamtgesellschaftlichen Alltag abbilden müssen.
Dr. Henke: Das berührt auch die Frage, wie eigentlich diese verschiedenen Fächer definiert sind. Definiert man sie von ihrer Zielsetzung her, lässt sich die Klassische Philologie als die Wissenschaft beschreiben, die sich dem Verständnis antiker Literatur verschrieben hat. Bei der klassischen Archäologie ist dies schwieriger: Früher konnte man sie ganz ähnlich als die Disziplin bezeichnen, die materielle Hinterlassenschaften der Antike erforscht und erklärt. Man blickt jedoch schon längst über das einzelne Objekt hinaus und versucht, die etwa hinter einem Bild stehenden Überzeugungen und Denkweisen zu erschließen; wenn man aber diese kulturellen Hintergrundphänomene nicht mehr nur zu Erklärung eines antiken Kunstwerks heranzieht, sondern sie zum eigentlichen Forschungsgegenstand macht, dann werden die materiellen Hinterlassenschaften zu einer Quellengattung, neben die gleichberechtigt die schriftlichen Zeugnisse treten. Die Archäologie nähert sich dann einer kulturhistorisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft an, eigentlich archäologisch ist dann lediglich die Methodik.
Dr. Schreyer: Die Auffächerung der altertumswissenschaftlichen Einzeldisziplinen hat zweifellos ihre Gründe. Wenn wir aber in der Lage sein wollen, kulturhistorische Fragestellungen wie die unseres Projektes zu beantworten, müssen wir die Disziplinen zwar kritisch nach ihrem jeweiligen Aussagepotential unterscheiden, sie aber letztlich wieder zusammenzuführen: zu Classics, zu Altertumswissenschaften oder schlicht zur „Classischen Altertumswissenschaft“ im Singular, aus der sich die heutige Fächerstruktur ursprünglich entwickelt hat.
Dr. Henke: Wir haben beide den Vorteil, je zwei dieser drei von Ihnen genannten Disziplinen studiert zu haben. Das seit den Bologna-Reformen im deutschsprachigen Raum verbreitete Universitätssystem macht diese Form der Interdisziplinarität schwieriger, da gerade die Klassische Archäologie häufig enger mit anderen archäologischen Fächern zusammengerückt ist; ähnliche Projekte werden daher in Zukunft vermutlich noch mehr auf die Zusammenführung von Experten der einzelnen Bereiche angewiesen sein. In München versuchen wir diesem Trend allerdings gerade entgegenzutreten: Hier haben wir vor einigen Jahren den BA-Studiengang ‚Classics‘ gegründet, damit es in Zukunft wieder etwas mehr ‚Altertumswissenschaftler‘ im transdisziplinären Sinne gibt.