L.I.S.A.: Vor fast genau 100 Jahren gründete Mustafa Kemal die moderne Republik Türkei. Was änderte sich im Hinblick auf die Alkoholpolitik mit der Ausrufung der Republik im Jahr 1923?
Dr. Biçer-Deveci: Als die Republik im Jahre 1923 offiziell ausgerufen wurde, galt in der jungen Türkei ein totales Alkoholhandels- und -konsumverbot. Dieses Verbot wurde im Jahre 1920 von der ersten demokratisch gewählten Nationalversammlung eingeführt. Im Jahre 1924 wurde es erst teilweise und 1926 dann vollständig aufgehoben, weil erstens die Durchsetzung des Verbots angesichts der verwaltungsstrukturell noch schwachen jungen Republik schwierig war. Zweitens kam die Initiative zum totalen Alkoholverbot von einer Gruppe, die sich später zu einer oppositionellen Fraktion abspaltete.
Die etablierte Forschungsliteratur zur Geschichte der Republikgründung behauptet, dass es erst im Jahre 1923 zu dieser Fraktionsbildung kam. Anhand der Debatten über die Alkoholfrage kann man jedoch sehen, dass erste Uneinigkeiten schon kurz nach der Wahl der ersten demokratisch gewählten Nationalversammlung im April 1920 aufkamen. Die Abstimmung in der Nationalversammlung über das Alkoholverbot ergab 72 Stimmen für und 71 Stimmen dagegen. Diejenigen, die für das Alkoholverbot stimmten, waren mehrheitlich religiös-konservativ und stellten sich später gegen säkulare Reformen der Regierung, wie die Aufhebung des Kalifats. Schon deshalb kann man die Aufhebung des Alkoholverbots im Jahre 1926 als eine Politik deuten, um alle Initiativen, die mit „Islam“ und der alten „osmanischen Ordnung“ in Verbindung gebracht wurden, rückgängig zu machen.
L.I.S.A.: Sie sehen die Prohibitionspolitik jedoch noch in einem anderen Kontext.
Dr. Biçer-Deveci: In einer meiner Publikationen habe ich versucht, eine andere Lesart einzubringen: Die Einführung des totalen Alkoholverbots im Jahre 1920 geschah im Kontext der ethnischen Säuberungen. In dieser Hinsicht können wir das Gesetz auch als Instrument zur Enteignung der Christen interpretieren, die den Alkoholhandel kontrollierten. Die Befürwörter des Verbots argumentierten auf der Basis von Feindbildern gegenüber Griechen und Armenieren, dass sich diese auf Kosten der Gesundheit von jungen türkischen Männern bereicherten und sie für den Kampf im Krieg schwächten.
Die Aufhebung des Verbots kam dann, nachdem der Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland beschlossen wurde und die Mehrheit der christlichen Bevölkerung das Land verlassen hatte. Nun hatte der türkische Staat das Monopol über die Alkoholproduktion inne. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Monopol dann schrittweise aufgehoben, um den Alkoholmarkt zu liberalisieren. Erste Regeln kamen im Jahre 1983, um die Altersgrenze beim Verkauf von Bier zu bestimmen. Denn Bier galt bis dahin als ein nicht-alkoholisches Getränk.