Rakı, der aus Weintrauben oder Rosinen gebrannte Schnaps mit dem typischen Anisgeschmack, gilt als Nationalgetränk der Türkei. Schon der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk soll dem Rakı verfallen gewesen sei. Anders der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan: Dieser kürte den Trinkjoghurt Ayran zum Nationalgetränk. Seine Regierung ließ das Trinken in der Öffentlichkeit sowie Werbung für Alkohol einschränken und erhöhte die Steuern. Letzteres führte dazu, dass immer mehr Türken ihren Schnaps illegal Zuhause brennen – und so dem Staat wichtige Steuereinnahmen verlorengehen. Zum Anlass des 100. Jahrestags der Staatsgründung der modernen Türkei (29. Oktober 1923) haben wir mit der Historikerin Dr. Elife Biçer-Deveci von der Universität Bern über das ambivalente Verhältnis der Türkei zum Alkohol gesprochen.
"Das Trinken als ein 'deviantes', die soziale Ordnung gefährdendes Verhalten"
L.I.S.A.: Frau Dr. Biçer-Deveci, Sie haben sich, unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds und der Gerda Henkel Stiftung, mit dem sogenannten „Alkoholproblem“ in der Türkei von 1900 bis heute beschäftigt. Was genau umfasst dieses „Alkoholproblem“? Für wen war und ist Alkohol in der Türkei ein Problem?
Dr. Biçer-Deveci: Das „Alkoholproblem“ ist ein Begriff, den die Abstinenzbewegungen in Europa und in den USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert verwendeten. Darunter verstanden sie mehr als die gesundheitlichen Schäden, vor allem soziale Probleme, die sie auf den Alkoholkonsum zurückführten. Unter diesen sozialen Problemen fassten sie Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Scheidungen usw. zusammen. Die Definition des Alkoholproblems blieb aber stets diffus, um das Trinken als ein „deviantes“, die soziale Ordnung gefährdendes Verhalten zu stigmatisieren.
Um die Jahrhundertwende wurden diese Ideen der westlichen Abstinenzbewegung auch von reformorientierten Gruppen in Istanbul aufgegriffen. Sie gründeten alkoholgegnerische Organisationen, um im Land ein totales Alkoholverbot durchzusetzen. Ähnlich wie die Abstinenzbewegung in westlichen Ländern gingen auch sie davon aus, dass das Trinken sich pandemieartig ausbreitete und insbesondere die ärmeren Schichten, Arbeiter und die Landbevölkerung heimsuchte. Das Trinkverhalten der oberen Schichten stellten sie nicht in Frage.
Während des Ersten Weltkrieges erlebte Istanbul Konflikte zwischen ethnischen und religiösen Gruppen. Türkische Zeitungen berichteten über Provokationen, bei denen sich Christen – denen Verbindungen mit den Entente-Mächten unterstellt wurden – abschtlich im Umfeld von Moscheen und Heiligengräbern berauscht haben sollen. Die Organisation Grüner Halbmond, damals Hilâl-i Ahdar genannt, wurde im Zuge dieser Entwicklungen gegründet. Das Ziel: ein totales Alkoholverbot. Zwar verwiesen Gründungsmitglieder auf die islamische Doktrin der Enthaltsamkeit, jedoch waren die Verfechter des totalen Alkoholverbots im Parlament vom Erfolgsmodell der Prohibition in den USA inspiriert. Dessen Erfolg deuteten sie als Beweis einer Weisheit, die sich ebenso in der islamischen Enthaltsamkeitslehre ausdrücke.