L.I.S.A.: Wie erklären Sie sich, dass ein, zumindest militärisch anmutender, Begriff wie dieser eine solche Trivialisierung in der deutschen Alltagssprache erfahren hat?
Prof. Diers: Mir war bis dato unklar – wiewohl doch geradezu offensichtlich -, wie kurz der Weg von „kriegen“ zu „Krieg“ ist und dass die sprachgeschichtliche Beziehung zwischen beiden Wörtern unmittelbar gegeben ist. Ein Blick in die Lexika klärt den etymologischen Zusammenhang rasch auf. Der Krieg ist laut Heraklit der Vater aller Dinge, im Deutschen ist er jedenfalls durch das einsilbige, hart-kehllautig und kreischend-spitzige „krîc“ der Stammvater von „kriegen“, und zwar in seiner doppelten Bedeutung von einerseits „etwas bekommen, erhalten“ sowie andererseits „streiten, kämpfen“. Letztere liegt historisch der ersten Variante voraus, so dass diese nur die abgerüstete, „entkräftigte“ bis neutralisierte Fassung darstellt. So heißt es etwa im Etymologie-Duden: „kriegen veraltet für ‚Krieg führen‘, umgangssprachlich für ‚bekommen‘ (mittelhochdeutsch kriegen, mitteldeutsch, mittelniederdeutsch krigen, niederländisch krijgen) bedeutete zunächst ‚sich anstrengen, sich um etwas bemühen, streben‘, dann auch ‚streiten, zanken; kämpfen, Krieg führen‘. Die umgangssprachliche Verwendung des Verbs im Sinne von ‚bekommen‘ geht aus von der Präfixbildung mitteldeutsch erkriegen (…), ‚strebend erlangen, erringen‘. Ableitung: Krieger, kriegerisch.“ Im ungleich ausführlicher kommentierenden Grimmschen Wörterbuch wird über Seiten zwischen einem starken und schwachen „kriegen“ unterschieden, aber beide Versionen sind ihrer Bedeutung nach in ein Erringen und Erstreiten, kurzum ein Kämpfen verwickelt und berühren sich sinngemäß mit den lateinischen Verben „niti, pugnare, capere, accipere“: „Die beiden kriegen, die wir haben, sind, obwol jetzt und schon lange geschieden, doch geschichtlich nicht zu trennen.“ Das zugehörige Substantiv „Krieg“ „tritt erst in der mittelhochdeutschen zeit auf, auszer dem hochdeutschen nur noch niederdeutsch, niederländisch. Den andern germanischen sprachen ist es überhaupt fremd (doch entlehnt im nordischen), ganz wie das dazu gehörige kriegen, in seinen beiden bedeutungen. aber es tritt gleich so entwickelt auf, dasz es da schon ein langes vorleben gehabt haben musz; das fehlen im althochdeutschen, altsächsischen kann nur zufällig sein, vgl. übrigens das althochdeutsche kreg pertinacia (…), aber die heutige bedeutung war damals nur ein theil des ganzen.“
Einen versöhnlicheren Akzent in Bezug auf die gegenwärtige Verwendung des Verbums „kriegen“ und seine Doppel(be)deutung setzt ein Artikel der Bonner Germanistin Charlotte Rein auf der Internet-Plattform „Dat Portal“ („Sprache im Rheinland“, „Sprache, wie sie nicht im Duden steht“): „Das Wort kriegen hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Ausgangspunkt sind althochdeutsch und altniederdeutsch krêg mit der Bedeutung ‚Starrsinn, Hartnäckigkeit‘. Diese entwickeln sich im Mittelhochdeutschen und Mittelniederdeutschen weiter zu kriec bzw. krîch, beide mit der neuhochdeutschen Bedeutung ‚Kampf, Streit (mit Worten oder Waffen)‘. Hieraus ergeben sich im mittelniederdeutschen Sprachraum zwei gleichlautende Verben, von denen das eine stark flektiert (gebeugt) wird und ‚streiten‘ bedeutet, während schwaches kriegen ‚bekommen, erhalten in allgemeinster Bedeutung‘ meint. Diese Zweiteilung (sowohl der Bedeutung als auch der grammatischen Form) breitet sich ins Mittelfränkische aus. Von hier aus wird sie wiederum weiter nach Süden exportiert, wobei sich im Laufe der Zeit bis zum Neuhochdeutschen die schwache Flexion und die Bedeutung ‚bekommen, erhalten‘ durchsetzen, so wie wir das Wort heute kennen.“ Dieser Auffassung nach hätte sich das aggressiv Kriegerische in „kriegen“ auf dem Weg ins Hochdeutsche allmählich aus- und fortgeschlichen und das Tätigkeitswort demnach seine Unschuld erlangt. Somit wäre der Gebrauch des Verbums inzwischen unbedenklich. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich stimmt. Denn was folgt aus der Erkenntnis, dass unsere Alltagssprache, zwischen Rhein und Ruhr offenbar noch stärker als im übrigen Deutschland, durch das Wörtchen „kriegen“ historisch deutlich von der Vorstellung „kriegerisches Handeln“ geprägt, ja kontaminiert ist? Der „Krieg“ in „kriegen“ versteckt sich ja nicht einmal der Buchstaben- und Lautfolge nach, sondern liegt offen zutage. Für mich persönlich jedenfalls tendiert seit einigen Wochen der vordem durchaus häufige Wortgebrauch gegen Null. Und immer, wenn ich das Wort seitdem höre oder lese, werde ich an seine historische Zwei- oder Doppeldeutigkeit erinnert.
Und ich bin daher heute froh darüber, dass Angela Merkel zu Beginn der „Flüchtlingskrise“ ihre unterdessen berühmte, beinahe geflügelte Wendung „Wir schaffen das!“ nicht in der Fassung, die der österreichische Präsident Alexander Van der Bellen in der letzten Zeit häufiger zur Aufmunterung seiner Landsleute benutzt („Wir kriegen das schon hin!“), vorgetragen hat. Die Merkel-Version kommt meinen sprachhistorischen und politischen Bedenken stärker entgegen. Zumal unter dem Slogan „Wir kriegen euch alle“ die Rechtsextremen in Deutschland Namenslisten politischer Gegner führen, denen es „an den Kragen gehen“ soll. Dass es einen Dokumentarfilm gleichen Titels über die Punkrock-Szene um die Gruppe Feeling B und Rammstein („Achtung! Wir kommen. Und wir kriegen euch alle“, 1994) oder auch einen gleichlautenden bayrischen Fernsehfilm aus der Reihe „Tatort“ (2018) gibt, beruhigt keineswegs, sondern kann verstören. Denn das „Kriegen“ ist in dem zitierten politischen Slogan explizit und reißerisch, in den beiden angeführten Kult(ur)titeln als Hinweis auf Gewalt zumindest leichtfertig oder unbedacht apostrophiert.
Heute ist der Krieg in den Medien wieder allgegenwärtig und wir müssen uns fragen, wie wir ihn – sit venia verbo – endlich wieder wegkriegen, sprich beenden. Ob eine Reflexion auf die Sprache dabei helfen kann, sei dahingestellt; einen Versuch, bei dem es selbstverständlich nicht um Sprachbereinigung geht, ist es wert.