Eine klare und eindeutige Definition von dem, was als Emotionen bezeichnet wird, steht nach wie vor aus. Schon Aristoteles hatte in mehreren seiner Schriften den Versuch unternommen, Emotionen gedanklich zu fassen, um nicht nur eine Theorie der Emotionen zu entwickeln, sondern um daraus konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten. Verkürzt ausgedrückt: Welche Emotionen stehen zur Verfügung und können zum Erreichen welcher Ziele wie eingesetzt werden? Mit dieser Frage bzw. mit der Relevanz von Emotionen für die Motivation menschlichen Handelns bei Aristoteles hat sich Dr. Katrin Oechsner in ihrem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Dissertationsprojekt auseinandergesetzt. Wir haben ihr dazu unsere Fragen gestellt.
"Vernetzungen zwischen konzeptuellen Annahmen und physiologischer Theorie"
L.I.S.A.: Frau Dr. Oechsner, Sie haben Ihre Dissertationsarbeit publiziert, die zuletzt erschienen ist. Ihr Thema ist die Relevanz von Emotionen für die Motivation menschlichen Handelns bei Aristoteles. So auch der Titel Ihres Buches. Bevor wir zu einigen Details Ihrer Arbeit kommen, woher stammt Ihr Interesse an Aristoteles‘ Überlegungen zum Thema Emotionen? Welche Vorüberlegungen gingen dem voraus?
Dr. Oechsner: Die Idee knüpft inhaltlich an meine Veröffentlichung zum Entscheiden moralischer Dilemmata an. Da ich nicht nur Philosophin, sondern auch Biologin mit den Schwerpunkten Psychologie und Physiologie bin, habe ich mich bereits im Vorfeld interdisziplinär mit moralischen Dilemmata und aktuellen Emotionstheorien beschäftigt. Moralische Dilemmata sind konstruierte Situationen, die als Testfälle zur Erforschung des Entscheidens genutzt werden. Bei der Erklärung des Entscheidens spielen auch Emotionen eine wichtige Rolle.
Für mich ist an der Aristotelischen Perspektive sehr spannend, dass Aristoteles seine Handlungstheorie nicht losgelöst von physiologischen Bezugspunkten entwirft, sondern beispielsweise Körperzustände einbezieht. In De Anima wird diese Verbindung dargestellt und am Beispiel der Emotion Zorn ausgearbeitet. In der Schrift De motu animalium führt Aristoteles aus, wie physiologische Prozesse zur Selbstbewegung beitragen. Aristoteles‘ umfassende Perspektive trägt dazu bei, dass seine Schriften wohldurchdachte Vernetzungen zwischen konzeptuellen Annahmen und physiologischer Theorie aufweisen. Durch diese Verbindungspunkte werden tiefergehende Fragestellungen greifbar, deren Relevanz mir aus meinem fachlichen Hintergrund heraus unmittelbar plausibel ist.