L.I.S.A.: Es überrascht, dass Aristoteles seine Emotionentheorie ausführlicher in seiner Rhetorik bespricht als in seiner Seelenlehre De Anima. Woran liegt das? Und findet sich hier der Anknüpfungspunkt zu Ihrer Arbeit, Emotionen nicht nur als Auslöser menschlichen Handelns, sondern auch als Beeinflusser menschlichen Urteilens zu begreifen?
Dr. Oechsner: Emotionen sind für die Rhetorik besonders relevant, weil der Redner von ihrer detaillierten Kenntnis profitiert. Beratungs- und Gerichtsreden zielen auf eine Abstimmung ab. Zu den Grundkompetenzen des Redners gehört es, den Ausgang solcher Abstimmungen zu beeinflussen. Um sein Ziel zu erreichen, muss er Ereignisse in einer Weise schildern, die bei den Adressaten eine Emotion erzeugt, die zum von ihm beabsichtigten Abstimmungsergebnis führt.
Zum Erzeugen der unterschiedlichen Emotionen finden sich in der Rhetorik ausführliche Hinweise, etwa dazu, wann welche Menschen für gewöhnlich aus welchen Gründen in die jeweilige Emotion gelangen. Durch die detaillierte Schilderung von einzelnen Emotionen und ihrer Erzeugung kommt hier umfangreiches Material zusammen. Die Herangehensweise an die Behandlung der Emotionen und auch ihr Umfang machen bereits deutlich, dass das Erreichen des Ziels der Rede durch Emotionen beeinflusst wird. Der Redner erhält die ausführlichen Informationen über Emotionen gewissermaßen als Handwerkszeug, um die Adressaten seiner Rede in Emotionen zu führen.
In die Rede über menschliche Urteile möchte ich gerne eine Unterscheidung einbringen. Die in der Rhetorik gemachten Bezugspunkte auf das Urteil können unterschiedlich verstanden werden. Dabei ist das Urteil in einigen Fällen, deren Auslegung in der Forschung diskutiert wird, nach meinem Gesamteindruck klar resultativ zu verstehen. Das heißt, etwa auf das Ergebnis einer Abstimmung bezogen, in der ein Urteil über eine Sache oder einen Angeklagten abgegeben wird. Andererseits könnte unter dem Urteil eine mentale Entität verstanden werden, so etwas wie eine Ansicht oder Meinung des Subjekts über den Gegenstand der Rede. Würde man etwa an allen Vorkommnissen von „Urteil“ in der Rhetorik eine mentale Entität ausmachen, würde man gewissermaßen einen anderen Text lesen. Einen Text, in dem Aristoteles sehr viel mehr über geistige Phänomene sagt, als er nach der für die strittigen Passagen gut passenden resultativen Lesart sagen muss.
Durch den mit der ersten Verständnisweise gewonnenen Raum kann man ein sympathischeres Bild von dem Redner gewinnen, den Aristoteles durch die Rhetorik instruiert. Er ist nicht als ein Demagoge zu verstehen, der die Menge durch gezielte Emotionsmanipulation zu beliebigen Urteilen (ver-)leiten kann. Vielmehr besteht seine Aufgabe darin, den Adressaten der Rede zu einer Entscheidung zu verhelfen, die in einem Handlungsspektrum liegt, das durch den Charakter (bzw. modern: der Persönlichkeit) des Adressaten abgesteckt ist. Dadurch, dass der Redner mit Emotionen arbeitet, kann er nicht zu beliebigen Urteilen motivieren, sondern die Wahrnehmung der Sachlage durch das Subjekt modulieren. Um das obige Beispiel des über Unterbrechungen letztlich ärgerlichen Kollegen noch einmal aufzugreifen: Eine dem Redner vergleichbare Emotionsformung könnte etwa darin gesehen werden, dass jemand seinen zunehmend von Unterbrechungen genervten Kollegen zu einer früheren Mittagspause und einen Spaziergang motiviert, bevor dieser bei der nächsten Unterbrechung wütend agiert.
Damit eine Führung mittels Emotionsmodulation in der Praxis gelingt, bedarf es eines vergleichsweise komplexen Detailwissens. Ein detailliertes Wissen über die Palette unterschiedlicher Emotionen ist für die Untersuchungsabsicht in De Anima erlässlich. Hier geht es Aristoteles darum, seine Annahmen über die Strukturen und Prozesse darzustellen, zu denen Emotionen beitragen. Das Aufgreifen einzelner Emotionen dient etwa der Veranschaulichung seiner Hintergrundannahmen und als Testfall. Im Unterschied zur Rhetorik würde seine Darstellung durch eine vollständige Behandlung der Einzelemotionen sachlich nicht gewinnen. Insofern ist gerade aufgrund des Anliegens die Menge des Textes, der unmittelbar von Emotionen handelt, weniger umfangreich als in der Rhetorik.