L.I.S.A.: Könnten Sie vielleicht an jeweils einem Blatt aus den drei Büchern eine kleine Bildexegese durchführen, in denen Sie Besonderheiten und Typisches an Dürers Vorstellungswelt, aber auch vor allem an seiner Technik aufzeigen? Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem das Verständnis von Proportionen und Perspektiven sowie das Moment der Bewegung - eine Art Vorläufer des Daumenkinos, bei dem ein Blatt mit dem darauffolgenden korrespondiert.
Prof. Grebe: Zunächst möchte ich eine Beobachtung vorausschicken, die schon beim ersten Durchblättern auffällt: Dürer hat die Holzschnittzyklen seiner „Drei Großen Bücher“ tatsächlich als Folgen konzipiert. Trotz der großen zeitlichen Abstände beim Entwurf der einzelnen Graphiken – bei der „Großen Passion“ annähernd 15 Jahre – entsteht durch die Fortführung eines einheitlichen Kompositionsprinzips – hier etwa durch die Betonung der Mittelachse – und der Beibehaltung bestimmter Figurentypen tatsächlich der Eindruck einer fortlaufenden Bilderzählung, auch wenn jedes Blatt einzeln als graphisches Meisterwerk seine Gültigkeit besitzt.
Erzählerisch am komplexesten ist sicher die „Apokalypse“, die kein Bericht über tatsächliche Ereignisse, sondern eine Vision des Sehers Johannes darstellt. Dürer versetzte das endzeitliche Geschehen in seine eigene Zeit, ohne dass mit den dargestellten Szenerien konkrete Landschaften, Architekturen oder Personen gemeint wären. Seine Prinzipien der Bildgestaltung kann man am berühmtesten Blatt der Folge, den „Vier Apokalyptischen Reitern“ (1498), gut nachvollziehen. Der Holzschnitt geht auf die Vision von der Öffnung der vier Siegel zurück. In der Folge werden vier Reiter ausgesandt, die die vier Plagen der Menschheit verkörpern, die Dürer in einer schräg hintereinander gestaffelten Reihe vorwärts sprengen lässt: Von hinten nach vorne die Pest, den Krieg, den Hunger und den Tod. Dieser hat einen Drachenkopf als Höllenschlund im Gefolge, der die auf dem Boden liegende Menschheit verschlingt.
Der Holzschnitt ist für mich eine der dramatischsten Schöpfungen Dürers. Nichts scheint die entfesselt dahinstürmende Kavalkade aufzuhalten, welche über die zu Boden stürzenden Menschen dahinfegt. Die Reiterphalanx entwickelt eine bedrohliche Dynamik, die an einigen Stellen selbst die Ränder des Holzschnitts zu sprengen scheint. Ganz rechts etwa steht ein Mann in abwehrender Haltung, der im nächsten Moment jedoch buchstäblich aus dem Bild zu stürzen droht. Die Graphik wurde immer wieder als Reflex auf die Ängste vor einem Weltende und die entsprechenden Prophezeiungen, die dem Jahr 1500 vorausgingen, gedeutet. Doch selbst wenn das Blatt auf solche Weltuntergangsszenarien anspielt, so lässt er sich, ebenso wie die „Apokalypse“ insgesamt, nicht auf ein einziges Ereignis beziehen. Vielmehr stellt der Holzschnitt meiner Ansicht nach eine viel universellere Idee dar. Mit den „Apokalyptischen Reitern“ hat Dürer ein überzeitliches Sinnbild für die Plagen, Schrecken und Ängste der Menschheit geschaffen, das bis heute Aktualität besitzt. Zugleich ist der Holzschnitt ein früher Beleg für Dürers Vermögen, mit den Mitteln des Schwarz-Weiß selbst eigentlich „undarstellbare Dinge“ wie Licht, Bewegung, atmosphärische Phänomene und Geräusche zu evozieren, wie der berühmte Humanist Erasmus von Rotterdam 1528 bewundernd schreibt.
Noch mehr als bei der „Apokalypse“ fällt auch beim um 1501/02 begonnenen „Marienleben“ die starke Einbettung des biblischen Geschehens in die Welt um 1500 und speziell in eine bürgerliche und patrizische Lebenswelt auf. So erscheint Maria als „höhere Tochter“ bzw. später im Gewand einer Nürnberger „Hausfraw“ gehobenen Standes. Doch während sich Dürer für Kleidungs- und Ausstattungsdetails an reale zeitgenössische Vorbilder angelehnt hat, handelt es sich bei den Architekturen um Idealräume. Bei einigen Holzschnitten der Folge sind die ineinander verschachtelten Bogenarchitekturen optisch so dominant, dass sie fast zum Hauptthema des Bildes werden. Ein extremes Beispiel ist die „Verkündigung“, bei der die hintereinander gestaffelten Bögen von horizontalen Linien durchschnitten werden, sodass der perspektivisch angelegte Raum auf den ersten Blick um ein Vielfaches multipliziert erscheint. Um ein wahres Kunststück in Sachen Perspektive handelt es sich auch bei der „Darbringung im Tempel“. Gegenüber der sich scheinbar ins Unendliche fortsetzenden, offenen Kassettendecke wirkt die biblische Handlung in den Hintergrund gerückt, während sich die Architektur mit ihren mächtigen Rundsäulen im wahrsten Sinne in den Vordergrund drängt.
Es entsteht der Eindruck, dass es Dürer in seinem Marienzyklus um mehr ging als eine bildliche Nacherzählung der Geschichte der Gottesmutter. Vielmehr steht in vielen Kompositionen die kunstreiche Erfindung im Vordergrund – eine Eigenschaft Dürers, die besonders von der italienischen Kunsttheorie und Kunstkritik der Renaissance lobend hervorgehoben wurde.
Die „Große Passion“ wirkt im Vergleich zum „Marienleben“ hinsichtlich der Raumkonstruktionen wesentlich konventioneller, die Architektur ist hier weitgehend auf ihre Funktion als Hintergrundfolie reduziert. Dagegen tritt bei den späten Blättern der „Passion“, Dürers Beschäftigung mit der menschlichen Proportion deutlicher zutage. Ein Beispiel ist der Holzschnitt „Christus in der Vorhölle“ (1510). Umringt von grotesken Teufelsgestalten und anderen Höllenwesen, befreit der auferstandene Christus die Seelen der Urväter aus dem Limbus. Zu den Erretteten gehören die Ureltern Adam und Eva, die nackt auf der vom Betrachter aus linken Seite stehen – ikonographisch jedoch die rechte und damit „gerechte“ Seite. Adam hält neben dem Apfel als Symbol der Erbsünde auch das Kreuz zum Zeichen der Erlösung umfasst. Auffällig sind neben den muskulösen Aktfiguren und den durch Verkürzungen und Verschattungen allerdings leicht verunklarten „klassischen“ Proportionen der Ureltern auch ihre Kontrapost-Stellungen, die auf Dürers Beschäftigung mit den antiken Proportionen verweisen.