L.I.S.A.: In vorherigen Interviews haben wir vor allem nach der auffälligen Gleichzeitigkeit der nationalen Krisen in Lateinamerika gefragt. Haben Sie dafür eine Erklärung? Gibt es eine Ursache oder einige Gründe für die gegenwärtigen Unruhen, die für den gesamten Kontinent gelten?
Dr. Arellano Cruz: Es ist definitiv auffällig, dass diese Welle an Demonstrationen fast gleichzeitig aufgekommen ist. Es ist ebenso bekannt, dass die Initialzündungen ganz unterschiedlicher Herkunft sind. Jedes Land hat seine ganz spezifischen historischen Besonderheiten. Aber möglicherweise ist der gemeinsame Nenner eine Politikverdrossenheit und eine starke Skepsis gegenüber den politischen Eliten. Verschiedene Korruptionsskandale (Stichwort "Odebrecht" z.B.), eine andauernde ökonomische Stagnation und ungleiche Verteilung des Wohlstands (wachsende Kritik an einem aggressiven Neoliberalismus, aber auch Frustration über sozialistische Experimente) sowie eine erhöhte Unsicherheit auf den Straßen führen dazu, dass die Bürger und Bürgerinnen sich sehr misstrauisch gegenüber dem Staat und seinen Institutionen zeigen. Diese Probleme sind eigentlich altbekannt. Neu ist vielleicht, dass die Leute es nicht mehr aushalten wollen und bereit sind, aktiv was dagegen zu tun.
Und warum alles jetzt? Dass die Menschen in Lateinamerika auf die Straßen gehen, um ihre sozialen und politischen Forderungen kund zu tun, ist schon immer eine populäre Praxis gewesen. Auffällig ist, dass nicht die traditionellen Organisationen, wie Gewerkschaften oder politische Gruppierungen, die aktuellen Demonstrationen anführen. Es sind in den letzten Jahren vor allem junge Menschen gewesen, die auf die Straßen gegangen sind.
2011 fanden in Chile massive Demonstrationen organisiert von SchülerInnen und StudentenInnen statt, die gegen das Bildungssystem protestierten. Auch die aktuellen Demonstrationen wurden durch Schüler initiiert. 2014 marschierten in Peru junge Menschen gegen ein Gesetz, das angeblich die hohe Jugendarbeitslosigkeit verbessern sollte, aber de facto ihre Arbeitsrechte limitierte. Das Gesetz musste ein paar Wochen danach außer Kraft ausgesetzt werden.
Ich denke, die Effektivität dieser Aufrufe hat mit einem Generationswechsel und ,mit den gegenwärtigen technologischen Möglichkeiten zu tun. Nachrichten können jetzt sehr schnell viele Menschen erreichen und sich sehr rasant verbreiten. Nicht nur diejenigen Personen, die regelmäßig die Tageszeitungen lesen oder die TV-Nachrichten sehen, sondern jeder kann Informationen schnell und quasi nebenbei aufnehmen. Das erleichtert die Organisation einer Demonstration und erhöht möglicherweise die Resonanz. Dieses Phänomen ist in Europa nicht neu; in Peru dagegen hatten 2016 gerade 25 Prozent der Bevölkerung ein Smartphone, heute liegt der Anteil bei fast 80 Prozent der städtischen Bevölkerung.