L.I.S.A.: In Ihrer Biographie setzen Sie Paul Klee oft auf die Couch und analysieren sein Wesen nach psychologischen Methoden. Wenn Sie aus dieser Perspektive abschließend auf den Menschen Paul Klee schauen, was ist das Es in seinem Leben, das er sublimieren musste? Was hat Paul Klee angetrieben?
Prof. Clemenz: Ich finde nicht, dass ich Klee auf die Couch gelegt habe. Ich habe vielmehr versucht, die intuitive Küchenpsychologie vieler Kunsthistoriker (soweit sie nicht überhaupt ablehnen, sich mit der Persönlichkeit des Künstlers zu beschäftigen) durch differenziertere psychologische Kategorien zu ersetzen. Deutlich wird bei Klee, dass er eine Reihe massiver psychischer Krisen durchlaufen hat, mit Depressionen und Suizidtendenzen. Man kann dies psychologisch als Konfliktneigung bezeichnen, die Klee durch seine Kunst zu bewältigen versuchte (Versuch der Selbstintegration). Dass er das Triebhafte zugunsten des Geistigen abgespalten hat (insofern ist die Selbstintegration nicht gelungen), dürfte, folgt man Klee, unter anderem mit frühen negativen sexuellen Erfahrungen zusammenhängen. Klee schreibt selbst, dass seine Moralität und Askese Resultat „sexueller Blamagen“ ist. Ich würde bei Klee auch weniger von Sublimierung sprechen (die es natürlich in einem ganz allgemeinen Sinne gibt, wie in jeder künstlerischen Betätigung), sondern vielmehr von einer Abspaltung des Triebhaften: es gibt bei Klee keine sublimierte, sondern allenfalls karikierte oder gar denunzierte Erotik.
Dies ist keine Psychoanalyse in absentia des großen Künstlers Klee, sondern der Versuch, die von ihm selbst geschilderten Probleme mit einer überschaubaren Zahl von psychologischen Kategorien zu beschreiben und zu verstehen. Es ist eher eine „dichte Beschreibung“ im Sinne von Clifford Geertz, als der unangemessene – und letztlich auch vergebliche - Versuch, Klee „auf die Couch“ zu legen.
Ich möchte abschließend auf zwei Kritikpunkte eingehen, die gelegentlich gegen mein Buch vorgebracht wurden. (1.) Ich würde zu wenig auf Klees subtile Zeichen- und Maltechniken eingehen, und statt dessen zu sehr das Biographische betonen. (2.) Ich würde die Aussagen von Künstlern überbewerten. Künstler würden viel sagen, und sich dann wieder davon distanzieren. Meine Antwort darauf lässt sich in einem Argument zusammenfassen: Ich habe eine Biographie in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext geschrieben, keine Werkmonographie, obwohl ich eine Reihe von Bildern sehr ausführlich interpretiert habe und dazu umfangreiches Bildmaterial vorgelegt habe. In einer Biographie muss ich die Aussagen eines Künstlers zunächst ernst nehmen (sie sind, wie in jeder anderen Forschung, sozusagen das Daten-Rohmaterial). Anschließend werden diese Daten von mir jedoch interpretiert, ich frage, vereinfacht ausgedrückt, ob die Künstleraussagen im biographischen Gesamtzusammenhang authentisch sind, oder eher Selbststilisierungen und Selbsttäuschungen. Die angewandte Methode ist hermeneutisch, d.h. jedes Datum wird nicht für sich allein, sondern im Gesamtzusammenhang aller Daten überprüft und interpretiert.