L.I.S.A.: Wenn man diese Situation mit der historischen Entwicklung vergleicht, in welcher Kontinuität steht die derzeitige türkische Politik? Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede kann man etwa im Vergleich zu den Entwicklungen in Dersim (1937/38) oder den Jahren nach Gründung der PKK (1978-1990) ziehen?
Küpeli: Auch diese Frage wird kontrovers debattiert. Derzeit überwiegend die Stimmen, die die jetzige Situation mit dem „schmutzigen Krieg“ der 1980er und 1990er Jahre vergleichen. Eine Ähnlichkeit ist das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte, sich nicht auf den militärischen Kampf gegen die PKK zu beschränken, sondern ebenfalls auf Repression der „nicht-loyalen“ Teil der kurdischen Bevölkerung zu setzen. So wurden damals kurdische Dörfer zerstört, die Dorfbevölkerung vertrieben, vermeintliche PKK-Sympathisanten wurden hingerichtet oder entführt. Ein Unterschied ist, dass heute der Krieg viel stärker im urbanen Raum, in den Städten, stattfindet.
Der Vergleich zur Dersim 1937-1938 wird von denjenigen politischen Beobachtern aufgestellt, die die jetzige Lage dramatischer als die 1980er und 1990er Jahre einordnen. Sie verweisen darauf, dass etwa die Massentötungen in Cizre nicht mehr unter die Kategorie Krieg fallen, sondern eher dafür andere Kategorien der Gewaltpolitik einbezogen werden, nämlich die des Massakers und des Genozids. So wie man in der Phase der kurdischen Aufstände in der Türkischen Republik der 1920er und 1930er Jahre Massaker und genozidiale Gewaltmaßnahmen wie etwa Zilan 1930 und Dersim 1937-138 ausmacht, wird im gegenwärtigen Krieg Cizre als ein Fall ausgemacht, in der die Rede vom Krieg nicht mehr angemessen scheint.
Im Übrigen gibt es bereits auch Stimmen, die den jetzigen Krieg mit dem Vorabend des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915-1916 vergleichen. Insbesondere die Sprache der türkischen Armeeführung und der regierungsnahen Medien macht diesen Vergleich möglich. Hier ist die Rede von "totalen Säuberungen", "unschädlich machen" des Gegners, die Bezeichnung der Kurden als "Ratten" und "Insekten". Dieser Eindruck, nämlich dass die genozidale Option zumindest verbal existiert, verstärkt sich, wenn man sich die Äußerungen der Sonder- und Spezialeinheiten der türkischen Sicherheitskräfte, die in den kurdischen Gebieten eingesetzt werden, anschaut. Insbesondere über die Sozialen Netzwerke wie etwa Twitter und Facebook wird sichtbar, dass dort Kräfte agieren, denen es nicht um die Bekämpfung eines militärischen Gegners, nämlich der PKK, geht.