„Wille zur Wahrheit“ kann man bei Bernhard, je nach Perspektive, als Provokation, als Paradox oder als Witz verstehen. Jedenfalls hat es wenig oder nichts mit einem herkömmlichen Verständnis von Wahrheit zu tun, sondern unterläuft dieses gleichsam. Der Anspruch auf Wahrheit ist, so Thomas Bernhard, Lüge, Verfälschung, alles Mitgeteilte ist „Fälschung.“ „Der Wille zur Wahrheit ist wie jeder andere, der rascheste Weg zur Fälschung und zur Verfälschung eines Sachverhalts“, wie er in dem autobiographischen Text Der Keller schreibt. Bernhard hat sich in seinen autobiographischen Texten an diese Maxime gehalten. Bernhard ist „Geschichtenerfinder“, seine Texte sind „Theater“, im genauen Sinn des Wortes. Es ergreift uns, erschüttert uns, stösst uns ab. „Wahrheit“ finden wir nur im Text, nicht in einer vermeintlichen biographischen Authentizität. Ähnlich hat es Picasso gesehen. Die Kunst ist eine Lüge, die zur Wahrheit führt. Die Welt ist absurd, sagt uns Bernhard, aber – ähnlich wie der spätere Camus es sagt – man kann sich wehren, zur „Revolte“ schreiten.
Das Leben als Geisterbahn - „Der Wille zur Wahrheit“
Die autobiographischen Texte von Thomas Bernhard am Schauspielhaus Frankfurt
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In einer fast dreistündigen Aufführung hat Oliver Reese die fünf autobiographischen Texte Bernhards, Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte, Ein Kind – fünf Texte, fünf Inkarnationen Bernhards - auf die Bühne gebracht und gezeigt, dass diese Texte auch hier funktionieren. Ein paar Requisiten, etwas Theaterblut (Bernhard, als an Tuberkulose Erkrankter, Blut spuckend) und fünf exzellente Schauspieler. Und als besonderer Regieeinfall: die jeweilige Inkarnation Bernhards steht nicht allein auf der Bühne, sondern wird pantomisch begleitet von seinen alter-egos. Die Gefahr eines Rezitationsabend ist gebannt. Die Texte sind fünf veritable Akte eines Theaterabends.
Bernhard zeigt sein Leben als Höllenfahrt: von der „Vorhölle zur Hölle“ und zurück. Zuweilen erinnert diese Höllenfahrt allerdings auch an eine Jahrmarkts-Geisterbahn. Zu plakativ, zu pappmachéhaft sind manche der Gespenster, die er uns vorführt, was wiederum auch umwerfend komisch sein kann (etwa die Gruselfigur eines Arztes, der seinen Pneumothorax falsch behandelt). Die „Höllenfahrt“ – wessen Höllenfahrt: die Bernhards oder der fiktiver Figur, die sich Bernhard nennt - beginnt in Salzburg, der Stadt der Lüge, der Eitelkeit, der Heuchelei, Salzburg als „nationalsozialistisch-katholischer Todesboden“. Die Schule, der Bernhard schließlich entflieht, als „Geistesvernichtungsanstalt“. Gespielt wird der jugendliche Bernhard von Bettina Hoppe, kühl, distanziert, was angesichts der geradezu delirierenden Wortkaskaden Bernhards angemessen ist. Weniger überzeugend ist ihre Kunstpfeiferei (eine Hommage an Loriot?), auch wenn sie später noch so kunstvoll – Salzburg lässt grüßen - Mozart zwitschert.
Der Weg von der Hölle in die Vorhölle ist der Weg in den „Keller“ des Lebensmittelgeschäfts von Karl Podlaha (Der Keller). Anders als ein offenbar wenig konzentrierter Kritiker schrieb, ist Podlaha kein „tückischer Kleinkrämer, sondern ein unverhoffter Feingeist, der Bernhards musische Ambitionen akzeptiert und ihm im Keller freie Hand lässt. Hier probt Bernhard erstmals die Revolte, weg von der Reichenhaller Straße in Salzburg (wo das Gynmasium liegt) in die „andere Richtung“, zu Podlahas Lebensmittelladen. Szenisch steht diese Umkehr im Mittelpunkt des Aktes, virtuos komödiantisch gespielt von Victor Tremmel (dem man anmerkt, dass er Brandauer und dessen Burgtheater-Wienerisch genau studiert hat). Wer Berhards Autobiographie kennt, weiss, dass diese Umkehr nicht unbedingt Bernhards eigene Entscheidung war. Seine Schulleistungen waren so schlecht, dass sein Stiefvater ihn zu diesem Schritt mehr oder weniger zwang. In Der Atem spielt Josefin Platt, als gespenstischer Pierrot geschminkt, den todkranken, an Tuberkulose leidenden Bernhard, der bereit ins Sterbezimmer abgeschoben wurde. Leider hat man der großartigen Schauspielerin Platt (sie brillierte in dem ebenfalls von Reese inszenierten Stück Der nackte Wahnsinn) den textlich schwächsten Akt überlassen. Auch der vierte Akt, Der Atem, war dank der schauspielerischen Leistung von Vincent Glander ein komödiantisch-absurdes Glanzstück. Die Tuberkulose-Heilanstalt, in die Bernhard als achtzehnjähriger zwangseingeliefert wird, entpuppt sich samt ihrer Ärzte als eine weitere Hölle. Bernhard, der noch nicht wirklich an Tuberkulose erkrankt ist, also für die Mitpatienten noch kein „richtiger Kranker“ ist, befindet sich auf der untersten Stufe der Hackordnung der Klinik. Er hustet so lange, bis er Blut spuckt und schließlich tatsächlich an TBC erkrankt. Schwer krank wird er schließlich nach drei Jahren Klinikaufenthalt entlassen.
Höhepunkt des Abends war zweifellos der fünfte Akt Ein Kind, in dem der gealterte Bernhard seine Geburt und Kindheit schildert . Er kam als uneheliches Kind von Herta Bernhard in einem Fischkutter im niederländischen Heerlen zu Welt, wo er von seiner Mutter, die für ihren Lebensunterhalt sorgen musste, einer Pflegefamilie mit zwanzig Pflegekindern überlassen wurde. Seine Mutter, so jedenfalls Bernhard, hasste ihn zeitlebens für seine Ähnlichkeit mit seinem Vater, der die Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hatte. Sie macht ihn – stellvertretend für den Vater – für ihr „Unglück“ verantwortlich. Mit dem Ochsenziemer prügelt sie gleichsam auf ihren untreuen Liebhaber ein.
Peter Schröder spielte diesen Rückblick auf Berhards Kindheit mit einer selbst für das Theater ungewöhnlichen stimmlichen und mimischen Präsenz. Seine Schilderung einer verunglückten Reise – Bernhards erster Ausbruchsversuch - als Achtjährigen mit dem Fahrrad von Traunstein nach Salzburg war eine theatralische Meisterleistung. Als er enttäuscht und mit kaputtem Fahrrad wieder zu seinem verehrten Großvater zurückkehrt, kann er sein Scheitern ins Gegenteil verkehren: „Ich hatte die Fähigkeit, mein klägliches Scheitern am Ende mit ein paar kurzen Sätzen zu einem Triumph zu machen“. Wer Peter Schröder zuhört, der fünfzehn Minuten - scheinbar ohne Luft zu holen - spricht, klar und eindringlich, wird angesichts des Genuschels im nächsten Tatort den Fernseher ausschalten.
„Hätte ich, was alles heute meine Existenz ist, nicht tatsächlich durchgemacht, ich hätte es wahrscheinlich für mich erfunden und wäre wahrscheinlich zu dem Ergebnis gekommen.“ Deutlicher kann man „Wahrheit“ im Theater nicht definieren. Es macht keinen Unterschied, ob es sich um erfundene oder wirkliche Wirklichkeit handelt. Die Wirkung ist dieselbe. Der ästhetische Schein entsteht nicht dadurch, dass wir glauben, wirklich Hamlet auf der Bühne zu sehen, sondern dass wir uns selbst aus der Theaterfigur Hamlet unseren eigenen Hamlet schaffen. Betrachtet man die „Wahrheit“, die uns Bernhard auf der Bühne präsentiert, genauer, so darf man Berhards Selbstilisierung allerdings auch kritisch hinterfragen: Was uns Bernhard als Hölle oder Vorhölle präsentiert, sind - frei nach Sartre - stets die Anderen. Über seine eigene Hölle schweigt er, jedenfalls hier. Von Liebe, Erotik beispielsweise ist nicht die Rede. Aber vielleicht ist dies Bernhards ganz private Hölle.