Reuter: Frau Spannagel, an welche Optionen denken Sie, um den Schwächen des Sozialstaates zu begegnen. Vollbeschäftigung scheint ja nicht zu leisten zu sein. Wie könnte man Ihrer Meinung nach diesem Problem begegnen?
Dr. Spannagel: Nun, das ist eine sehr komplexe Frage. Ich will die wichtigsten Stichworte nennen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Reuter: Das stimmt, vielleicht etwas zu komplex für einen Chat…
Dr. Spannagel: 1. Deutlich erhöhte Umverteilung über Steuern: "Starke Schultern" müssen mehr leisten. Stichworte: Erhöhung Spitzensteuersatz, Wiedereinführung Vermögenssteuer.
Prof. Fischer: Da bin ich sofort bei ihnen.
Dr. Spannagel: 2. Höhere Leistungen des ALG II bzw. eine radikale Reform dieses Systems, etwa bezüglich einer Abschaffung der Sanktionen, 3. Ausbau des sozialen Arbeitsmarktes. Es sind einfach nicht alle ALG-II Empfänger für den ersten Arbeitsmarkt geeignet, und 4. Deutliche Stärkung der Tarifbindung in Verbindung mit höheren Löhnen und geringeren Lohnungleichheiten.
Die vier Punkte sind für mich auf jeden Fall zentral, aber bei weitem nicht alles.
Prof. Fischer: Die Sanktionen abzuschaffen wäre schon einmal eine riesige Erleichterung. Aber innerhalb des jetzigen Systems kann auf Sanktionen nicht verzichtet werden, weil man sie braucht, solange man Bedingungen definiert, unter denen ein Transfer gewährt wird. Eine Eingliederungsvereinbarung macht nur Sinn, wenn deren Einhaltung sanktionierbar bleibt.
Ihre Beispiele, Frau Spannagel, setzen alle daran an, dass jeder in einer Erwerbsarbeit mündet. Warum? Ich halte es für wichtig und zukunftsfähig, Einkommen und Erwerbsarbeit zu entkoppeln, weil es nicht möglich und nicht sinnvoll ist, dass jeder ein Erwerbseinkommen erzielt. Andere Leistungen - wie familiäre und bürgerschaftliche - werden dann übersehen.
Dr. Spannagel: Frau Fischer, nicht unbedingt. Wenn Sanktionen im ALG II-System abgeschafft werden, dann verbinde ich damit schon die Hoffnung, dass auch langfristig die Stigmatisierung zurückgeht und man sich "freiwillig" dafür entscheiden kann, ALG II zu beziehen. Gleichzeitig denke ich, dass "Erwerbstätigkeit" im weiteren Sinn, also auch etwa Sorgearbeit, sinnstiftend ist und eine soziale Inklusion in die Gesellschaft fördert.
Prof. Fischer: Das wäre dann ein ALG II, das letztlich ohne weitere Bedingungen (über die Bedürftigkeit hinaus) gewährt werden müsste, also auf die Kontrolle des Verhaltens (der Aktivitäten der Arbeitssuche) verzichten würde. Dennoch ist gerade die Bedürftigkeitsprüfung häufig demütigend (von Absurditäten mal abgesehen, dass jemand seine Ersparnisse aufbrauchen muss) und sie bleibt dann nach wie vor das Normalmodell: eben nicht bedürftig zu sein. Wenn man sich diese Wortwahl einmal genau ansieht, merkt man schon die Stigmatisierung darin.
Dr. Spannagel: Aber Sie haben recht, Frau Fischer, Sorgearbeit darf nicht weiterhin so unterbewertet und meistens unbezahlt bleiben. Da muss sich was ändern.
Prof. Fischer: Genau, Frau Spannagel, aber anstatt Sorgearbeit zu bewerten und ökonomisch abrechenbar zu machen (dann bräuchte man auch dafür wieder einen Nachweis, der kontrollierbar ist), wäre das BGE einfacher und direkter: Es ließe jedem seine eigenen Entscheidungen, inwiefern er oder sie sich einbringen will.
Dr. Spannagel: Frau Fischer, man kann bei einem sanktionslosen ALG II ja mit Anreizen arbeiten. Warum nicht etwa jemanden, der sich aktiv um Arbeit und Weiterbildung bemüht, etwa mit Rentenpunkten belohnen. Nur so als Beispiel.
Prof. Fischer: Rentenpunkte als Belohnung klingt gut. Dennoch hält auch dieser Ansatz die Grundüberzeugung aufrecht, es sei etwas Wertvolleres, sein eigenes "Brot" zu verdienen.
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1200,- € für eine vierköpfige Familie sind 4800 € netto!
Die Frage ist eher, ob dann jemand noch ernsthaft für 1000 € zusätzlich Klos putzt ...
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1. Falls es BGE gibt, wird voraussichtlich Wohngeld, Kindergeld etc. wegfallen, das könnte bei einem Grundeinkommen von ca 1.200,- € wie derzeit diskutiert, für einige Gruppen zu einer enormen Verschlechterung führen.
2. besteht die Befürchtung, dass, wenn es ein BGE gibt, die Löhne sinken;
3. wie ist das mit Menschen, die in Deutschland leben und keine deutsche Staatsbürgerschaft haben - derzeit ist das Kriterium, dass man hier Steuern zahlt, das würde u.U. wegfallen.
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Wenn der wegfällt sinkt diese auch dramatisch. Damit gibt es dann auch nichts mehr zu verteilen.
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1.) Bei den Berechnungen gehen die meisten Modelle von einer gleichbleibenden Einnahmesituation wie in der Marktwirtschaft aus. Das ist geradezu absurd. Die Steuereinahmen werden wie in der Sonne schmelzen, Firmen abwandern.
2.) Wie wollen sie die (bereits jetzt aufgrund der hohen Steuerlast stattfindende) Abwanderung verhindern? Wie 1961 in der DDR? In vielen Branchen reicht es schon wenn ein paar Hundert Topentwickler abwandern, um einen ganzen Wirtschaftszweig kollabieren zu lassen (siehe dann auch als Folge 1.)
3.) Im Sozialismus war die "Unter-der-Hand-Wirtschaften" gang und gäbe. In der Sowjetunion gab es in den 80ern massive mafiöse Strukturen der Korruption. Dies ist in allen sozialistischen Staaten so gewesen. Wie wollen sie das verhindern? Mit dem Polizeistaat 3.0?
4.) Es gibt Berechnungen, wie weit ein Individuum steuerlich ausgepresst werden kann, bis es aufhört zu arbeiten. Diese Grenze würde weit überschritten.
5.) Politische Stimmungen wandern hin- und her. Es wird sich schnell eine starke "Anti-BGE-Partei" bilden, die hohe %-Zahlen macht. Was dann? Verbieten? Bautzen wieder aufmachen zum Wohle der sozialistischen Volks ... pardon BGE-Gemeinschaft.