Ein Seminar bei Theodor W. Adorno zu besuchen war an verschiedene Herausforderungen geknüpft: Interesse an seinen Themen, ein Vorverständnis für seine Philosophie und Ästhetik sowie nicht zuletzt die Erstellung von Sitzungsprotokollen. Aus 56 Seminaren haben sich 480 Protokolle erhalten, und die Namen der Protokollanten lesen sich wie ein Who is Who bundesrepublikanischer Intellektueller. Dr. Dirk Braunstein vom Institut für Sozialforschung in Frankfurt a. M. hat sich dieser historischen Dokumente angenommen und arbeitet in einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojekt an einer Edition der Protokolle. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Inhomogenität der Seminare - in Inhalt und Form"
L.I.S.A.: Herr Dr. Braunstein, Sie arbeiten zurzeit an einer Edition der Sitzungsprotokolle aus den Seminaren von Theodor W. Adorno. Bevor wir zu den Protokollen kommen: Wie kann man sich ein Seminar bei Adorno vorstellen? Weiß man etwas über Verlauf und Atmosphäre der Seminare?
Dr. Braunstein: Es gibt bereits etwas Literatur zu dem Thema, d.h. zur Frage, wie die Seminare bei Adorno verliefen, zumeist handelt es sich um Erinnerungen ehemaliger Teilnehmerinnen und Teilnehmer; ich nenne hier nur das Bändchen Geist gegen den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, das Josef Früchtl und Maria Calloni 1991 bei Suhrkamp herausgegeben haben. Es gibt auch ein, zwei andere ähnliche Titel. Da findet man hier und dort schon den Versuch, etwas von der Atmosphäre von damals zu vermitteln.
Daneben gibt es ansatzweise Versuche, die Lehre bei Adorno weitergehend zu erforschen, etwa im Band Der nonkonformistische Intellektuelle von 1999, in dem Alex Demirović der Lehrpraxis der Frankfurter Schule ein eigenes Kapitel gewidmet hat, in dem er auch auf die Sitzungsprotokolle zurückgreift und aus einigen zitiert, um nachzuzeichnen, wie die Seminare verlaufen sein mögen. Das gibt es also durchaus.
Interessanterweise zeichnet sich mit all diesem Material und mit den erwähnten Perspektiven kein besonders homogenes Bild ab. Ich vermute, das ist auch ganz schlicht der Inhomogenität der Seminare selbst geschuldet, nämlich sowohl was ihren Inhalt betrifft als auch ihre Form. Es ist an dieser Stelle vielleicht hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, daß Adorno Ende 1949 aus dem Exil in den USA zurück nach Frankfurt kam, um sogleich mit dem Lehrbetrieb zu beginnen: Er hielt Vorlesungen Seminare in Philosophie ab und bekam 1953 zunächst eine außerordentliche Professur für Philosophie und Soziologie. Im Wintersemester 1954/55 gab Adorno dann zwei Übungen in Soziologie, das waren seine ersten soziologischen Lehrveranstaltungen überhaupt, und da war er bereits über 50. Von da an gab es also einerseits philosophische, andererseits soziologische Veranstaltungen, und die Seminare untergliederten sich wiederum in Proseminare, Hauptseminare und Oberseminare. Je nachdem, welche Veranstaltung nun besucht wurde, so ist jedenfalls mein Eindruck, ändert sich auch die Erzählung darüber, wie "streng" das Seminar war, wie hierarchisch es mit einer gewissen Schülerschaft bestellt war und dergleichen.
L.I.S.A.: Musste man für eine Adorno-Veranstaltung nicht schon einiges mitbringen, um dort überhaupt teilnehmen geschweige denn mithalten zu können?
Dr. Braunstein: Was die Frage des Vorwissens und des Mithalten-Könnens betrifft: Ich greife ein wenig vor, um zu erzählen, wie ich neulich, im Zuge unserer Rechteeinholung, ein Telephonat mit einer ehemaligen Studentin Adornos führte, Ellen Schölch, nachmals die Gattin Ludwig von Friedeburgs. Frau von Friedeburg also erzählte mir, wie sie im Wintersemester 1957/58 im soziologischen Hauptseminar über Wirtschaft und Gesellschaft bei Adorno saß, praktisch nichts verstand, ganz unzufrieden war und sich unendlich dumm vorkam. Irgendwann bemerkte er dies, fragte seine Studentin, was denn los sei, sie mache ihm stets einen unglücklichen Eindruck, woraufhin sie ihm antwortete, sie verstehe einfach vieles von dem, was im Seminar verhandelt würde, nicht. Adorno erwiderte, das gehe ihm im Ernst ganz genauso, auch er verstehe nicht immer alles, was diskutiert würde, aber dafür seien sie doch schließlich hier, um zu lernen.