L.I.S.A.: Was sind jetzt die nächsten Schritte, die in Ihrem Projekt anstehen?
Dr. Braunstein: Die Protokolltexte sowie die Anmerkungen plus Herausgebertexte werden, so gut es eben zum jetzigen Zeitpunkt möglich ist, mindestens sieben Millionen Zeichen ergeben, womöglich gar neun Millionen oder mehr (vieles hängt einfach wirklich von den Anmerkungen ab). Das ist mehr Material, als in einen Band passt, deshalb sind vier großformatige Bände geplant.
Für die Publikation sind wir mit einem großen und internationalen Wissenschaftsverlag im Gespräch, der ohne weiteres in der Lage ist, erstens, die anfallenden Massen im Sinne einer Gesamtausgabe publizistisch zu bewältigen, andererseits sehr viel Erfahrung mit Print, E-Book und Open Access hat: Das Material wird also auch über lange Zeiträume gut erreichbar bleiben, was uns natürlich sehr wichtig ist; wichtiger auch, einen preisgünstigen Gesamttextkorpus anbieten zu können. Von dieser Vorstellung, so sehr sie mir wirklich sympathisch ist, musste ich mich im Laufe der Vorbereitungen verabschieden, das Material ist einfach viel zu umfangreich, und eine Auswahlausgabe wäre aus fachwissenschaftlichen und editorischen Erwägungen nicht zu legitimieren.
Zurzeit arbeiten wir daran, den ersten Band einzurichten, d.h. in den vollständig transkribierten, nach unseren Editionsprinzipien eingerichteten und korrigierten Text zunächst einmal sämtliche notwendigen Anmerkungen zu machen. Das geschieht in mehreren Arbeitsschritten: Als erstes werden leicht auffindbare Zitate belegt oder dargeboten, bekannte Personen identifiziert usw. Im nächsten Schritt folgen die etwas kniffligeren Hinweise. Hier müssen wir mittels einschlägiger Literatur häufig erst einmal feststellen, welche Literatur in den Protokollen gemeint ist; d.h. als Herausgeber arbeitet man sehr häufig mit Sekundärliteratur, die dann in den Anmerkungen gar nicht mehr auftaucht, weil natürlich gleich auf die Primärtexte verwiesen wird. Besonders schwierig wird es eigentlich immer dann, wenn Bemerkungen in den Protokollen allzu kryptisch oder ungenau sind; von Adorno ist man dergleichen durchaus gewohnt, es gibt eine Handvoll indirekter Zitate, die er etwa Hegel zuschreibt, die aber so schlicht nicht bei diesem vorkommen. Man muss dann eben darlegen, ausgehend von welchen Aussagen bei Hegel Adorno zu seiner Meinung, Hegel habe dergleichen wenngleich implizit gesagt bzw. geschrieben. Was bei Adorno nun die, womöglich kuriose, Ausnahme ist, kommt bei Sitzungsprotokollen naturgemäß schon mal häufiger vor. Wenn man dann nicht weiter weiß, z.B., weil man sich vielleicht bei Hegel, aber nicht gleichermaßen bei Thorstein Veblen und schon gar nicht in der sowjetischen Astrophysik – auf die ein Protokoll leider ausgiebig Bezug nimmt – auskennt, muß man sich an Fachleute wenden, die es entweder selbst wissen, oder aber immerhin jemanden wissen, der es weiß. Kurzum, die Verfahren sind, nachdem sämtliche Texte gesammelt und eingerichtet sind und die Rechteeinholung separat läuft, für jeden der vier zu publizierenden Bände stets schrittweise dieselben. Und es ist, ehrlich gesagt, ziemlich befriedigend, wenn man, wie wir mittlerweile, sieht, wie aus einer reichlich amorphen Textmasse, verteilt in mehreren Archiven, ein organisches Buch entsteht, in dem die Texte durch unsere Verweise und Kontextualisierungen eine Struktur und eine Art von Folgerichtigkeit bekommen, die man – wir selbst auch kaum – dem Material an sich einfach nicht ansehen kann. Interessanterweise kommt ihm nun nämlich eine Bedeutung nicht bloß für die Philosophiegeschichte zu (bzw. für die Soziologiegeschichte, die sich zurzeit mehr und mehr dahin entwickelt, eine vergleichbare Eigenständigkeit für die Disziplin zu erlangen), sondern auch für anderen disziplinäre Bereiche.
In dem Zusammenhang möchte ich gerne noch diejenigen Texte und Veranstaltungen erwähnen, die sich aus der Arbeit an und im zunehmenden Maße eben auch mit der Edition ergeben. Im neuen Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie: »Zyklos« konnte ich das Projekt vorstellen, auch auf Umfang, Inhalt der Protokolle eingehen sowie auf Seminarprotokolle als editionsphilologische Gattung. Für das kommende Jahrbuch werde ich einen Beitrag zum Thema Rechteeinholung bei umfangreichen Editionen beisteuern. Im laufenden Jahr werde ich des Weiteren in den »Working Papers« des Instituts für Sozialforschung eine kommentierte Übersicht sämtlicher Lehrveranstaltungen Adornos publizieren, in einer pädagogischen Fachzeitschrift einen Aufsatz über Adornos Seminar »Probleme der Bildungssoziologie« beisteuern und in einer Zeitschrift für Ideologiekritik einen über das Seminar zur autoritätsgebundenen Persönlichkeit.
Ich erwähne diese Publikationen, um womöglich zu verdeutlichen, wie breitgefächert das Interesse ist, das die Seminarprotokolle beanspruchen können. Diese Breite drückt sich auch in den Veranstaltungen aus, in denen ich das Projekt vorstelle, zuletzt letzten Dezember in Graz beim Kolloquium der deutschsprachigen Soziologie. In diesem Jahr werde ich selbst zwei Kolloquien durchführen: zunächst eines in Marburg, mit Herrn Thomas Noetzel, der eine Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte innehat, und der mich im letzten Herbst ebenfalls eingeladen hatte, einen Vortrag über die Protokolle und deren theoriegeschichtlichen Wert zu referieren. Wir haben den Titel »Archiv und Abfall« ins Auge gefaßt, wir wollen also Archivtheoretisches behandeln. Zum zweiten will ich das kommende Kolloquium zur Geschichte der deutschsprachigen Soziologie Ende des Jahres am Institut für Sozialforschung veranstalten. Also auch hier bietet die Edition und die Herausgabe vielerlei Anknüpfungspunkte in Richtung Philosophie und Soziologie, was ja naheliegt, aber auch in Hinblick auf Politik, Pädagogik, Ideen- und Theoriegeschichte, Ideologiekritik, Archivtheorie, Editionswissenschaft.
Ich bin wirklich sehr positiv überrascht, einerseits, wie viele Menschen sich für das Projekt interessieren (offenbar alle über die Homepage des IfS) und sich bei mir melden; andererseits, aus welch unterschiedlichen Fachrichtungen mir Interesse bekundet wird – die Musikwissenschaften wären noch zu erwähnen, im letzten Jahr hat sich eine spanische Studentin viele Protokolle aus einem musiksoziologischen Seminar für ihre Dissertation angeschaut.
Andererseits melden sich Leute aus den USA, die Fragen bezüglich der Protokolle haben, sowie ein junger amerikanischer Student, der sich allen Ernstes um ein Praktikum bei mir beworben hat, das er dieses Jahr hier beginnen will. Überhaupt, die Praktikanten: Das Vorhaben wird sehr gut wahrgenommen, und ich habe zurzeit bereits vier Praktikantinnen und Praktikanten, die mir sehr helfen und mit Freude und Intelligenz bei der Sache sind. Ich bin mir sicher, daß wir eine sowohl wichtige als auch interessante große Publikation zustande bringen werden, die noch einige positive Überraschungen für alle Interessierten bereithält, und an die sich eine Fülle an Folgestudien anschließen wird – aus, s.o., vielerlei Forschungsfeldern.