L.I.S.A.: Können Sie anhand von einem oder zwei exemplarischen Romanen der Zeit kurz demonstrieren, welche Geschichtsbilder über die jeweiligen Narrative vermittelt werden?
Dr. von Rüden: Nehmen wir doch direkt die ersten beiden Romane, die ich für das Stichprobenjahr 1913 ausgewählt und analysiert habe:
Flammensturm. Roman aus den Tagen des Sturzes und der Erhebung Preußens von August Friedrich Krause handelt von fünf sehr unterschiedlichen Familien, die in Breslau die Zeit der Napoleonischen Kriege erleben. Während die Stadt dem Belagerungs- und späteren Besatzungszustand überlassen wird, raufen sich die Bürger Breslaus eigenmächtig zusammen und führen die Befreiung von der französischen Übermacht selbst herbei.
Gräfin Potocka. Der Roman einer schönen Frau von Willy Norbert beschreibt das tragische Leben der polnischen Adligen Anna Potocka zur Zeit der Napoleonischen Herrschaft. Ihre vom Patriotismus angetriebenen Versuche, politisch Einfluss zu nehmen und damit ihr Vaterland Polen wiederherzustellen, bilden den Kern der Erzählung.
Diese Romane wurden von zwei Berliner Verlagen, die sich im Jahr 1913 als überaus engagiert im Bereich historischer Belletristik zeigten, produziert und widmen sich dem in diesem Stichprobenjahr besonders beliebten Themenkomplex um „Napoleon und die Befreiungskriege“.
Krauses Flammensturm ist von einer frankreichfeindlichen Sprache geprägt. Es überwiegt eine direkte, unverhohlene Kritik an den als rücksichtslosen Eroberer dargestellten Franzosen. Die antagonistische Romanfigur Jérôme Napoleon wird als besonders moralisch verwerflicher Charakter präsentiert, dessen Verhalten primär von Trieben gesteuert ist.
Norberts Gräfin Potocka präsentiert ein noch viel deutlicheres Negativbild von den Franzosen, was vor allem deshalb überrascht, weil der Verlag auf den ersten Blick den Eindruck kultureller Vielfalt erweckte. Napoleon Bonaparte, eine zentrale Figur des Romans, wird im Verlauf der Handlung als machtsüchtiger Despot und Vergewaltiger entlarvt.
Die augenfälligen Parallelen in der Darstellung des „Erzfeinds“ und die Erkenntnis, dass gerade Napoleon bzw. seine Familienangehörigen als Beweis für den schlechten Charakter der Franzosen im Allgemeinen benutzt werden, lassen vermuten, dass das „Feindbild Frankreich“ im Jahr 1913 fest in der geschichtskulturellen Landschaft verankert war und nur noch geringen Deutungsspielraum – wenn überhaupt – zuließ. Im Gegensatz dazu steht die künstlerische Umsetzung in der sogenannten Hochliteratur, in der ein positiver Napoleon-Mythos seit den 1850er Jahren festgestellt werden kann. Hier gibt es einen Unterschied zwischen dem allgemeinen „Feindbild Frankreich“ und der positiv besetzten, idealisierten und mythologisch stilisierten Figur Napoleons.
Diese Differenzierung kann für das Genre des historischen Romans unter Einbezug trivialer, belletristischer Massenware nicht bestätigt werden. Der thematisierte Stoff ist zwar in den verschiedenen literarischen Darstellungen derselbe, aber die heraufbeschworenen Bilder, die die Gefühlslagen der Leserschaft zu beeinflussen vermochten, bilden eine sehr große Spannbreite ab.