Das vom Deutschen Archäologischen Institut koordinierte Projekt IANUS widmet sich in seinen IT-Empfehlung ausgiebig der Problemen, die sich bei der Langzeitarchivierung von Forschungsdaten unausweichlich ergeben. Dies betrifft natürlich auch die Dokumentation einer Grabung, die heute auch über Datenbanken und andere 'digitale' Dokumentationssysteme erfolgen kann. Durch die Empfehlungen zieht sich wie ein roter Faden die mahnende Anweisung, dass „Fortbestehen und Lesbarkeit gewährleistet sein müssen“[1].
Dies bezieht sich vor allem auf die Verwendung von bestimmten Dateiformaten. Selbst bei Textdateien kann es heute schwierig werden, so lässt sich zum Beispiel eine der früher häufig verwendeten .sdw-Dateien[2] nur mit etwas Aufwand überhaupt noch öffnen, und ob die Formatierung dann korrekt dargestellt wird steht in den Sternen. Zahlreiche Dateiformate sind im Laufe der letzten Jahrzehnte aufgekommen und wieder obsolet geworden. Besonders kritisch ist dies bei proprietären Formaten, wenn die Herstellerfirma das Programm nicht weiterentwickelt und die alten Versionen nicht mehr verfügbar sind oder auf modernen Computern (und Betriebssystemen) gar nicht erst verwendet werden können.
Noch immer bedeutend häufiger als die vollständig computergestützte Dokumentation ist die Verwendung von handschriftlichen Befundzetteln, die zur Archivierung gescannt oder in Datenbanken übertragen werden. Bei Grabungen, die vor dem Anbruch des Computerzeitalters stattgefunden haben, ist die Dokumentation somit natürlich immer handschriftlich[3].
Spock: These incised symbols are fascinating. Evidently, some form of writing.
Kirk: Any theories about what it is?
Spock: Negative, Captain.[4]
Doch nicht nur Dateiformate werden obsolet, sondern auch Handschriften. Wenige Leute können heute Kurrent oder Sütterlin flüssig lesen, aber Grabungstagebücher in diesen Schreibschriften sind keine Seltenheit. Hinzu kommt, dass gerade Feldnotizen oft in großer Eile verfasst werden, und sich diese Eile deutlich in der Lesbarkeit der Schrift widerspiegeln kann. So wird es zu einem großen Problem, die Dokumentation überhaupt entziffern zu können.
Die beigefügte Abbildung stammt aus den Notizen bzw. dem Grabungstagebuch (im Format A6) der 1973 von Wolfgang Müller-Wiener in Milet im Bereich der Michaelskirche bzw. des Dionysosheiligtums durchgeführten Grabung. Müller-Wieners Schrift ist grundsätzlich sehr klein und ist gespickt mit Ligaturen und anderen handschriftlichen Eigenarten, wie jeder Mensch sie besitzt. Mit viel Mühe und Kenntnis der Sache, von der der Text handelt, lässt sich anhand eindeutig zu identifizierender Wörter ein eigenes Handschriftenalphabet erstellen, und mit etwas Übung wird letzten Endes auch jeder zunächst unmöglich erscheinende Text lesbar. Diese Vorgehensweise wird durch Scans der Seiten und die damit einfache Vergrößerung der Schrift bedeutend vereinfacht.
Das qualvolle Brüten über Tagebuchseiten ist allerdings nicht die einzige Möglichkeit, sich Handschriften zu nähern. In vielen Archiven und an Universität werden Handschriftenkurse angeboten, die wenigstens das Lesen von alten Schriften erheblich vereinfachen sollten. Es gibt jedoch auch computergestützte Möglichkeiten: Die in vielen Scan-Programmen schon eingebaute optical character recognition (OCR / Automatische Texterkennung) stößt jedoch schon bei Drucktexten mit Sonderzeichen oder Krümeln auf den Scans an ihre Grenzen und ist erst recht nicht geeignet, eine Handschrift zu entziffern. Hierfür wird von einem Projekt, das an der Universität Innsbruck beheimatet ist, die freie Software Transkribus angeboten. Das Programm ist in der Lage, neue Handschriften zu lernen, sodass nach einer ausreichend langen Trainingsphase (als Richtwert werden 15.000 Wörter angegeben) größere Mengen von Dokumenten automatisch transkribiert werden können. Die projekteigene Datenbank enthält bereits Texterkennungsmodelle für viele verschiedene Schriften, die jedoch überwiegend aus sorgfältig angefertigten Archivdokumenten stammen. Die Nutzbarkeit für Grabungsdokumentationen ist somit durchaus eingeschränkt, da die meisten Schriften erst trainiert werden müssten und die Erfolgsrate bei ungenauer Handschrift niedriger sein wird. Jedoch erscheinen ein paar Erkennungsfehler bei dem Gewinn durchaus vernachlässigbar.
Wenn jedoch mit der Verwendung begonnen wird, bietet das Programm die bisher ungenutzte Möglichkeit, die Massen an Informationen aus handschriftlichen Archivdokumenten in ein dauerhaft lesbares Format zu überführen. Transkribierte Seiten können als texthaltige pdf-Datei oder der Text im unformatierten plain text-Format .txt gespeichert werden. So würde die Zugänglichkeit der in den alten Texten enthaltenen Informationen um ein vielfaches erleichtert, und zusätzlich weitere Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Material geschaffen. Leider ist die Notwendigkeit des 'Trainings' am Ende jedoch ein großes Problem. Sofern nicht unüberschaubar große Massen von Texten in der selben Handschrift vorliegen ist die Verwendung von Transkribus nicht zeit-ökonomisch oder sogar unmöglich, und leider erfüllen die wenigsten Grabungstagebücher die nötigen Mengenvorgaben.
Und am Ende sitzt man doch wieder vor den Blättern und stellt seine eigenen kognitiven Fähigkeiten in Frage, wenn die Augen zum zwanzigsten Mal und wider besseren Wissens lieber Brotschicht als Brandschicht in dem Wort erkennen möchten.
A little suffering is good for the soul – Die Aufarbeitung von ‚Altgrabungen‘
In der Artikelreihe 'A little suffering is good for the soul' werden Methoden und Möglichkeiten zur Aufarbeitung von Altgrabungen vorgestellt. Bei allen Beispielen beziehe ich mich auf meine eigene Arbeit zum Dionysosheiligtum von Milet, die die Aufarbeitung der Ausgrabungen durch den 1991 verstorbenen Bauforscher Wolfgang Müller-Wiener umfasst. Mein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Ein Heiligtum des Dionysos in der Sakrallandschaft von Milet“ wird seit 2018 von der Gerda Henkel Stiftung gefördert.