Oftmals und vielerorts wird beklagt durch archäologische Forschungen und Notgrabungen würde immer nur mehr und mehr Material angehäuft, das wertvollen (oder: teuren) Stauraum verbrauche, aber nie ein Mensch zu Gesicht bekomme. Ein Artikel aus dem 2016 erschienenen Sammelband Massendinghaltung in der Archäologie diagnostiziert auf polemische Art und Weise gar zwanghaftes Horten.
A little suffering is good for the soul
Teil 1 | Die Aufarbeitung von ‚Altgrabungen‘
Ob man dem Denkanstoß des Autors, Raimund Karl, strengere Auswahlen zu treffen und den minder aussagekräftigen Rest „auf die ein oder andere Weise zu entsorgen“[1] zustimmt oder nicht – er spricht ein erhebliches Problem an, das im Zeitalter allgegenwärtiger Massendatenhaltung ein ebenso allgegenwärtiger Diskussionsgegenstand[2] geworden ist: Das Altern der Informationen, der Forschungsdaten und letztlich der Aussagekraft von Objekten.
Die meisten Objekte, die Gegenstand archäologischer Forschungen sind, besitzen eine gewisse Permanenz: Keramikscherben zerfallen so schnell nicht zu Staub, schon gar nicht von alleine, selbst Metallfunde und Knochen – so sie angemessen aufbewahrt wurden – überdauern lange ZeitNatürlich trifft das nicht unbedingt auf alle Gattungen zu.; ebenso Steine, seien es Skulpturen oder Bestandteile einer erneut vergrabenen Mauer. Das fragile an den Dingen sind die mit ihnen verbundenen aber nicht fest in sie integrierten Informationen: Aus welcher Grabung stammt die Scherbe? Wo wurde die Münze gesammelt? Aus welchem Befund kommt das Gefäß? Was war noch mal mit dieser unbeschrifteten kleinen Plastiktüte, in der schwarze Asche vor sich hin bröselt?
Raimund Karl nennt als Beispiel Altfunde, die aus einem zerbombten Archiv geborgen wurden. Die Objekte seien teilweise kaum zu identifizieren, die Papieraufkleber mit den Inventarnummern verbrannt, und dennoch würde diese Menge von ‚altem Mist‘[3], wie er es implizit nennt, aufbewahrt. Wer seiner Argumentation folgt, ist geneigt, ihm zuzustimmen. Und doch kratzt immer das Gewissen im Hinterkopf, das er überspitzt als Symptom einer Zwangsstörung deutet: Was, wenn diese Dinge noch für „zukünftige archäologische Untersuchungen gebraucht und genutzt“[4] werden können? Diese Zwangsstörung – und die daraus resultierende Masse ungenutzter Objekte – erzeuge einen Leidensdruck, der sich in Zugangshürden, Überarbeitung und daraus resultierender Vernachlässigung der Magazine äußere[5].
Das Problem hat der Permanenz von mit Objekten verbundenen Informationen betrifft nicht nur die Archive der deutschen Denkmalpflege, auf die sich Karl maßgeblich bezieht[6]. Es ist eine der größten Herausforderungen für jene, die es auf sich genommen haben, eine sog. ‚Altgrabung‘ aufzuarbeiten. Doch die Aufarbeitung solcher Grabungen ist nötig: Je mehr Zeit vergeht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Informationen verloren gehen. Die erwähnten Papieraufkleber fallen ab, Tinte verblasst, und eilig abgelegte, vielleicht nicht eindeutig beschriftete Dokumente gehen verloren. Papier mag geduldig sein, aber es wartet nicht für immer.
Altgrabung: Definition in der archäologischen Umgangssprache
Das Wort alleine sagt es im Grunde schon: Gemeint ist in der Regel eine alte Grabung. Ein Projekt wird in der archäologischen Umgangssprache als Altgrabung bezeichnet, wenn seit der Ausgrabung einige Zeit, meist Jahrzehnte, oft gar ein Jahrhundert, vergangen ist. Die Ergebnisse wurden nicht durch die eigentliche Projektleitung publik gemacht, sondern sollen erst später von bisher unbeteiligten Personen aufgearbeitet werden. Das kann vorkommen, wenn der ursprünglichen Leitung Zeit oder Ressourcen fehlen, um die Arbeit zu einem Ende zu bringen, und oftmals trifft Theodor Wiegands schon vor mehr als einem Jahrhundert getroffene Einschätzung zu: „Viele Hoffnungen zerstörte vorzeitiger Tod.“[7], Vorwort
Den Bearbeiter*innen der Altgrabungen stehen somit nur Archivmaterialien zur Verfügung. Je nach forschungsgeschichtlicher Epoche mag die Art der Dokumentation variieren: Fotos waren vor einem halben Jahrhundert noch bedeutend kostspieliger, als sie es heute sind, und standardisierte Dokumentationsformen mit Befundbeschreibungsblättern, Planumszeichnungen und extensiver Vermessung haben sich erst in den letzten Jahrzehnten vollständig in der Klassischen Archäologie etabliert. Häufig sind aus Altgrabungen die Grabungstagebücher überliefert: Im Laufe der Ausgrabungen wurden täglicher Fortschritt und Ergebnisse laufend festgehalten. Die Genauigkeit der Aufnahme variiert dabei je nach Projektleitung und hier schließt sich das etwas leidige Thema des Informationsmangels an.
„No speculation, no information, nothing. I've asked you three times for information on that, and you've been unable to supply it. Insufficient data is not sufficient, Mister Spock. You're the science officer. You're supposed to have sufficient data all the time.“[8]
Nicht nur in optimistischen Utopie-Phantasien der 60er Jahre trifft der tautologische Angriff Kirks einen Nerv: Unzureichende Daten sind unzureichend. Auch wenn die Dokumentation von Altgrabungen dem Stand damaliger Methodik entspricht, so ist es ein inzwischen überholter Stand und zumeist geht damit einher, dass viele wichtige Informationen aus diesen und jenen Gründen fehlen. Ob die Zeit sie aufgefressen hat, oder sie gar nicht erst niedergeschrieben oder – im Falle von Funden – aufgehoben wurden: Als an der eigentlich Grabung unbeteiligte Person braucht es eine große Menge Vorstellungsvermögen und letzten Endes auch Spekulation und guter Hoffnung, um zu einem Ergebnis zu kommen, das heutigen Ansprüchen an Publikationen gerecht werden kann. Die Diskrepanz zwischen dem vorhandenen Material und dem Anspruch ausreichende Daten zu haben erzeugt wiederum einen ganz anderen Leidensdruck, als den von Raimund Karl beschriebenen. Doch um es nochmals mit den Worten des Kapitäns der Enterprise zu sagen, die er an seinen Schiffsarzt richtet, als jener die Ermüdung der Mannschaft nach zu langer Anstrengung beklagt:
Aren't you the one who always says: a little suffering is good for the soul?[9]
Die Ausgrabungen Wolfgang Müller-Wieners im Dionysosheiligtum von Milet
In der hier begonnenen Artikelreihe 'A little suffering is good for the soul' werden Methoden und Möglichkeiten zur Aufarbeitung von Altgrabungen vorgestellt. Bei allen Beispielen beziehe ich mich auf meine eigene Arbeit zum Dionysosheiligtum von Milet, die die Aufarbeitung der Ausgrabungen durch den 1991 verstorbenen Bauforscher Wolfgang Müller-Wiener umfasst. Mein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Ein Heiligtum des Dionysos in der Sakrallandschaft von Milet“ wird seit 2018 von der Gerda Henkel Stiftung gefördert.