Die beigefügte Abbildung stammt aus den Notizen bzw. dem Grabungstagebuch (im Format A6) der 1973 von Wolfgang Müller-Wiener in Milet im Bereich der Michaelskirche bzw. des Dionysosheiligtums durchgeführten Grabung. Müller-Wieners Schrift ist grundsätzlich sehr klein und ist gespickt mit Ligaturen und anderen handschriftlichen Eigenarten, wie jeder Mensch sie besitzt. Mit viel Mühe und Kenntnis der Sache, von der der Text handelt, lässt sich anhand eindeutig zu identifizierender Wörter ein eigenes Handschriftenalphabet erstellen, und mit etwas Übung wird letzten Endes auch jeder zunächst unmöglich erscheinende Text lesbar. Diese Vorgehensweise wird durch Scans der Seiten und die damit einfache Vergrößerung der Schrift bedeutend vereinfacht.
Das qualvolle Brüten über Tagebuchseiten ist allerdings nicht die einzige Möglichkeit, sich Handschriften zu nähern. In vielen Archiven und an Universität werden Handschriftenkurse angeboten, die wenigstens das Lesen von alten Schriften erheblich vereinfachen sollten. Es gibt jedoch auch computergestützte Möglichkeiten: Die in vielen Scan-Programmen schon eingebaute optical character recognition (OCR / Automatische Texterkennung) stößt jedoch schon bei Drucktexten mit Sonderzeichen oder Krümeln auf den Scans an ihre Grenzen und ist erst recht nicht geeignet, eine Handschrift zu entziffern. Hierfür wird von einem Projekt, das an der Universität Innsbruck beheimatet ist, die freie Software Transkribus angeboten. Das Programm ist in der Lage, neue Handschriften zu lernen, sodass nach einer ausreichend langen Trainingsphase (als Richtwert werden 15.000 Wörter angegeben) größere Mengen von Dokumenten automatisch transkribiert werden können. Die projekteigene Datenbank enthält bereits Texterkennungsmodelle für viele verschiedene Schriften, die jedoch überwiegend aus sorgfältig angefertigten Archivdokumenten stammen. Die Nutzbarkeit für Grabungsdokumentationen ist somit durchaus eingeschränkt, da die meisten Schriften erst trainiert werden müssten und die Erfolgsrate bei ungenauer Handschrift niedriger sein wird. Jedoch erscheinen ein paar Erkennungsfehler bei dem Gewinn durchaus vernachlässigbar.
Wenn jedoch mit der Verwendung begonnen wird, bietet das Programm die bisher ungenutzte Möglichkeit, die Massen an Informationen aus handschriftlichen Archivdokumenten in ein dauerhaft lesbares Format zu überführen. Transkribierte Seiten können als texthaltige pdf-Datei oder der Text im unformatierten plain text-Format .txt gespeichert werden. So würde die Zugänglichkeit der in den alten Texten enthaltenen Informationen um ein vielfaches erleichtert, und zusätzlich weitere Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Material geschaffen. Leider ist die Notwendigkeit des 'Trainings' am Ende jedoch ein großes Problem. Sofern nicht unüberschaubar große Massen von Texten in der selben Handschrift vorliegen ist die Verwendung von Transkribus nicht zeit-ökonomisch oder sogar unmöglich, und leider erfüllen die wenigsten Grabungstagebücher die nötigen Mengenvorgaben.
Und am Ende sitzt man doch wieder vor den Blättern und stellt seine eigenen kognitiven Fähigkeiten in Frage, wenn die Augen zum zwanzigsten Mal und wider besseren Wissens lieber Brotschicht als Brandschicht in dem Wort erkennen möchten.