Die terroristischen Gewaltakte vom 13. November in Paris hatten ihren brutalen Höhepunkt in der Konzerthalle Bataclan noch nicht erreicht, da wurden in den Sozialen Netzwerken bereits zahlreiche bekannte und neuerfundene Symbole und Metaphern gepostet und geteilt, die Entsetzen, Trauer und Solidarität mit den Opfern ausdrücken sollten: Peace-Zeichen mit und ohne Eiffelturm, französische Nationalsymbole wie die Trikolore und die Nationalfigur Marianne, Hashtags wie #prayforparis oder #jesuisparis. Man wolle damit ein Zeichen setzen, hieß es. Auch in den Tagen nach den Anschlägen bekundeten Einzelpersonen, Organisationen wie beispielsweise Parteien, Gewerkschaften oder Vereine, Kirchenvertreter und Regierungshäupter, ein Zeichen setzen zu wollen. Was ist eigentlich genau damit gemeint? Um welche Zeichen handelt es sich dabei? Und wie funktionieren solche Zeichensysteme aus semiotischer Perspektive? Wir haben diese und andere Fragen der Kulturwissenschaftlerin und Romanistin Prof. Dr. Eva Kimminich von der Universität Potsdam gestellt.
"Zeichen setzen heißt in der Semiosphäre operieren"
L.I.S.A.: Frau Professor Kimminich, Sie forschen unter anderem zu kulturellen Identitäten und Metaphern, zu visueller Kommunikation und zur Kultursemiotik. Seit den jüngsten Anschlägen von Paris bekunden viele Menschen öffentlich, insbesondere in Sozialen Netzwerken, aber auch Politik und Medien ihre Anteilnahme und Trauer. So werden beispielsweise Profilbilder in die französische Triklore getaucht oder durch ein Peace-Zeichen mit dem Eiffelturm ersetzt. Damit wolle man ein Zeichen setzen, heißt es. Was heißt das genau „ein Zeichen setzen“? Welche Zeichen sind hier gemeint?
Prof. Kimminich: Zeichen setzen heißt zunächst einmal etwas Bedeutsames in einer ungewöhnlichen, aber allgemein bekannten Weise zu kommunizieren, so dass es von möglichst vielen Menschen wahrgenommen wird. Das ist nicht so einfach, denn unsere Welt ist zeichenimprägniert. Jede Kultur stellt ihren Mitgliedern eine Vielzahl an Sinn- und Zeichensystemen zur Verfügung, mit denen Welt-, Selbst- und Fremdbilder dargestellt, gesellschaftliche Ordnungen, Regeln und Werte sichtbar gemacht und Macht repräsentiert wird. Der Semiotiker Jurij Lotman prägte dafür den Begriff der Semiosphäre. Darunter ist ein semiotischer Raum zu verstehen, in dem sämtliche Zeichensysteme, die eine Gesellschaft nutzt oder hervorbringt, zusammenwirken. Es gibt darunter zentrale hegemoniale, aber auch periphere Zeichensysteme.
Zwischen all diesen verschiedenen Symbol- und Zeichensystemen besteht ein ständiger Transfer. Lotman geht davon, dass an den jeweiligen Rändern dieser Systeme Kontaktzonen entstehen, in denen die verschiedenen Zeichen und Codes vermehrt miteinander kombiniert bzw. ineinander übersetzt werden. Zeichen setzen heißt also in der Semiosphäre operieren, geltende Zeichensysteme zu verändern, miteinander zu kombinieren und neue Zeichen und Sinnsysteme daraus zu kreieren.
Die Werbung beherrscht das seit einigen Jahrzehnten virtuos, aber auch der Pariser Grafiker Jean Jullien, der das Solidaritätslogo im Anschluss an die Anschläge vom 13.11. entworfen hat: ein Peace-Zeichen mit integriertem Eifelturm. Zum einen nutzt er das polykontextuale CND (Campaign for Nuclear Disarmament)-Symbol, mit dem 1958 gegen den Vietnamkrieg protestiert wurde, und das sich nachfolgend sowohl die Studentenbewegung als auch Tierschützer oder Irakkrieg-Kritiker zu eigen machten. Zum anderen haben wir das Ikon des Eifelturms, das nationale Symbol für Frankreich und Ikone der Moderne und einen ebenfalls polykontextualen und abwandelbaren Slogan „Je suis Charlie, Paris, en terrasse …“ etc.