Je urbaner, technisierter und regulierter die Welt, umso größer erscheint der Wunsch nach freier Natur und unberührter Wildnis. Die Reisebranche hat daraus einen ganzen Geschäftszweig entwickelt, dem das Paradox aus organisiertem Abenteuerurlaub und angeblich ursprünglichen und unkontrollierten Naturräumen nichts anzuhaben scheint. Das Gefühl, Wildnis erlebt zu haben, scheint die Bedürfnisse zu stillen. Doch es gibt auch andere Bereiche, in denen Konzepte von und Diskurse über Wildnis zu Fragen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz werden. Welche Rolle spielen solche Konzepte und Diskurse beispielsweise bei der Einrichtung von Nationalparks, der Gestaltung von Städten und Landschaften oder beim Schutz von Naturräumen? Dr. Gisela Kangler hat im Fachbereich "Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung" über diese und anschließende Fragen geforscht, ihre Dissertation ist inzwischen erschienen. Wir haben ihr unsere Fragen gestellt.
"Missverständnisse, die mit der Vieldeutigkeit von ‚Wildnis‘ zu erklären sind"
L.I.S.A.: Frau Dr. Kangler, Sie haben im Fachbereich „Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung“ promoviert und zuletzt Ihre Dissertation unter dem Titel „Der Diskurs der ‚Wildnis‘“ veröffentlicht. Bevor wir zu Einzelheiten kommen, was hat Sie zu diesem wissenschaftlichen Projekt bewogen? Welche Vorüberlegungen gingen ihm voraus?
Dr. Kangler: Da haben mehrere Aspekte zusammengespielt: Zum einen habe ich mich schon in meinem Studium der Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung an der TU München und der BOKU Wien (Universität für Bodenkultur) wissenschaftlich mit Landschaft und Kulturlandschaft befasst – gesellschaftliche Auffassungen davon und Theorien dazu aktuell und in der Kulturgeschichte.
Zum anderen habe ich praktische Erfahrungen in und mit Naturschutz und Landschaftsplanung in meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Angestellte in der bayerischen Umweltverwaltung gesammelt. Da ging es nicht nur um das Umsetzen eines Artenschutzgesetzes oder die Entwicklung eines Gewässers nach bestimmten wasserwirtschaftlichen Erfordernissen, sondern oft um die Leidenschaft für die konkrete Natur und Landschaft in ihrem Erscheinungsbild, ihrer Erlebnisqualität und ihrer Faszination. Bei Naturschutzplanungen kommen zu naturwissenschaftliche Beschreibungen immer Wertsetzungen für oder gegen etwas, z.B. den Wolf, hinzu. Mit Planungsideen, die konkrete Handlungen – zur Förderung oder Bekämpfung des Wolfes – leiten, kann nur dann angemessen auf gesellschaftliche Vorstellungen reagiert und Akzeptanz erlangt werden, wenn sie transparent beschrieben werden.
Dabei ist mir immer aufgefallen, dass Wildnis ein aktuelles Thema – ob nun im Kontext von Nationalparks oder Stadtgestaltung etc. – ist, das oft intensiv und divergent in der Gesellschaft verhandelt wird. Den Grund für Konflikte vermutete ich in Missverständnissen, die mit der Vieldeutigkeit von ‚Wildnis‘ zu erklären sind.