L.I.S.A.: Ihre Arbeit ist in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Wildnis“ bzw. mit dem Diskurs um „Wildnis“. In Diskursen der Aufklärung bzw. der Moderne bildete sich eine Dichotomie zwischen „Wildnis“ und „Zivilisation“ heraus, bei der ersteres pejorativ aufgeladen war. Heute ist das nicht mehr so eindeutig. Im Gegenteil: „Wildnis“ ist oft positiv konnotiert und beispielsweise mit dem Ausbruch aus einer dekadenten Zivilisation verbunden. Zahlreiche Reiseunternehmen werben mit Ferien in der „Wildnis“, John Krakauers Reportage und der darauf basierende Film „Into the Wild“ waren Kassenschlager. Wie erklären Sie sich diesen Bedeutungswandel?
Dr. Kangler: Wildnis wird nicht erst heute auch positiv verstanden. Vor allem in romantischen Auffassungen spielt Natur – insbesondere Wälder und Wildnis – als Gegenpol zur klassischen Ordnung seit ca. 1800 eine ganz wichtige Rolle. Den geistigen Zugang zu einer freien, nicht zivilisatorisch verschütteten Natur hofft man in mythischer oder ästhetischer Form zu finden. Der Zauber, das Geheimnisvolle, das Unbekannte, das Wunderbare und Wundersame wird hochgeschätzt. Die romantische Ästhetik hat Wildnis insbesondere mit ihrem Erhabenheitsbegriff positiv und vielfältig thematisiert und wird sehr geschätzt. Wilde, von zivilisatorischen Einschränkungen freie Gegenden, findet man beispielsweise in Caspar David Friedrichs Gemälden. Das zieht sich weiter durch die mitteleuropäische Kulturgeschichte mit Geistesströmungen, wie die Lebensphilosophie und die Lebensreformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts.
John Krakauers Buch ist wohl auch aus der US-amerikanischen ‚wilderness‘-Idee heraus zu verstehen, die sich dort in der Nationalparkbewegung Ende des 19. Jahrhunderts zeigt und im ‚Wilderness Act‘ von 1964 festgehalten ist. Diese Wildnisschutz ist aus der Kulturgeschichte des Landes zu verstehen; es besteht insbesondere der Mythos des Pioniers besteht, der in Wildnis erfahren und erhalten werden kann.
Soweit nur ein paar stichpunktartige Gedanken – das ist alles eigentlich vielschichtiger und komplexer.
Dass Wildnis heute in Fachkreisen des Naturschutzes und in der Gesellschaft allgemein ein Thema ist und auch positiv besetzt ist, darin stimme ich Ihnen zu. Vielleicht ist es so, dass Wildnis momentan als Gegenwelt zum Technisierten und Rationalisierten gesehen wird. Je stärker wir durchgetaktet und organisiert sind, desto mehr haben wir Sehnsucht nach der unkontrollierten, eigenständigen, unbeherrschten, freien vielleicht sogar ursprünglichen und unberührten Natur – der Wildnis.