L.I.S.A.: Völker oder größere kulturelle Gemeinschaften sind schon immer gewandert. Was aber macht eine Völkerwanderung erst aus? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um dem begrifflichen Konzept „Völkerwanderung“ gerecht zu werden?
Dr. Scholl: In der Geschichtswissenschaft bzw. Migrationsforschung gibt es keine genauen Kriterien dafür, was eine „Völkerwanderung“ ausmacht; es gibt auch kein klar definierbares Konzept einer „Völkerwanderung“. Überhaupt ist der Begriff sehr problematisch, was u.a. darin begründet liegt, dass es sich dabei nicht um einen zeitgenössischen Begriff handelt. Erstmals verwendet wurde der Terminus wohl im 16. Jahrhundert, als der österreichische Humanist Wolfgang Lazius ein Werk über „Die Wanderungen einiger Völker“ – der lateinische Originaltitel lautet De aliquot gentium migrationibus – verfasste. Auf Deutsch erscheint der Begriff ab dem späten 18. Jahrhundert; im 19. Jahrhundert hatte er sich in Deutschland gemeinhin durchgesetzt, um die Epoche der Spätantike und des Frühmittelalters zu bezeichnen. Im Ausland wird dieses Zeitalter jedoch ganz anders bezeichnet, in Frankreich und Italien beispielsweise als „invasions barbares“ (franz.) bzw. „invasioni barbariche“ (ital.). Die französischen und italienischen Bezeichnungen verweisen darauf, dass die Epoche der „Völkerwanderung“ dort v.a. als Zeit des Niedergangs und Verfalls angesehen wurde, in der kulturlose und primitive „Barbaren“ die römische Zivilisation zerstört hätten.
In Deutschland dagegen wurde die Zeit der „Völkerwanderung“ in einem deutlich positiveren Licht gesehen; dort setzte man die „wandernden Germanen“ mit den Deutschen gleich, die das dekadente Römische Reich beseitigt und den Völkern Europas die Freiheit vom römischen Joch gebracht hätten. Ein weiteres – und vermutlich schwerer wiegendes Problem – liegt in dem Begriff „Völkerwanderung“ selbst. Dieser besagt ja, dass ganze Völker gewandert seien, doch genau das war am Ende der Spätantike und im frühen Mittelalter nicht der Fall. Neuere Forschungen haben vielmehr gezeigt, dass es sich bei den vermeintlich wandernden „Völkern“ um bewaffnete Heeresverbände handelte, die zwar im Tross Frauen und Kinder mitführten, aber deshalb noch lange keine „Völker“ darstellten. Überhaupt konnte sich die Zusammensetzung dieser polyethnischen Verbände permanent ändern: Bei Erfolg schlossen sich etwa Einheimische und andere Migranten dem Verband, z.B. den Goten, an; bei Misserfolg dagegen geschah das genaue Gegenteil: viele Menschen verließen den Verband und schlossen sich einem anderen, erfolgreicheren an, der mehr Aussicht auf Sicherheit und Wohlstand versprach. Das letzte Problem, das ich ansprechen möchte, haben Sie in Ihrer Frage schon angedeutet: Wanderungen größerer Gemeinschaften hat es immer gegeben. Migrationen stellen somit eher die Regel als die Ausnahme menschlichen Handelns dar. Bezeichnet man jedoch ein bestimmtes Zeitalter als „Völkerwanderung“, erweckt dies den Eindruck, als habe es nur zu dieser einen bestimmten Zeit Wanderungen größeren Ausmaßes gegeben.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Kommentar
http://www.welt.de/geschichte/article146277646/Das-war-es-dann-mit-der-roemischen-Zivilisation.html