Das Prinzip der Camouflage spielt in den urbanen Interventionen des belgischen Künstlers Francis Alӱs (*1959) eine zentrale Rolle. Es dient als Strategie, um normative Ordnungen im öffentlichen Raum sichtbar zu machen und infrage zu stellen.
In der mehrtätigen Aktion The Green Line von 2004 folgt der Künstler dem Grenzverlauf im Jerusalemer Stadtgebiet, der die israelischen und palästinensischen Gebiete voneinander trennt. Alӱs führt eine perforierte Farbdose mit sich, durch die grüne Farbe ausläuft. Im Zuge der Aktion entsteht eine lockere Farbspur, die die vielfach militärisch gesicherte und politisch umstrittene Grenze gewissermaßen überschreibt, indem sie sie gleichermaßen imitiert und kontrastiert. Ziel der Aktion sei es, so der Künstler, eine Konstellation zu erzeugen, in der das Politische ins Poetische umschlägt. Die Arbeit zeigt Bezüge zum Œuvre Marcel Broodthaers, der sich in den späten 1960er Jahren mit Fragen nationaler Identität befasste und kartographisches Material manipulierte, um politische Konventionen zu benennen und deren Veränderbarkeit vor Augen zu führen. Auch Alӱs integriert alltagsweltliche Materialien und Praktiken in seine Aktionen, die in sogenannten walks, also während des Gehens im urbanen Raum ausgeführt werden. Im Prozess des Gehens wird der begangene Raum zu einem Teil des Kunstwerks, wodurch er ins Imaginäre gewendet wird. Alӱs macht sich hierbei die situationistische Praxis des dérive und des détournement zu eigen: Gesellschaftliche Konventionen und Machtverhältnisse werden offengelegt und mit künstlerischen Mitteln zur Disposition gestellt, wie auch das zweite Werkbeispiel zeigt. In einer 2004 in London entstandenen Werkreihe streicht Alӱs mit einem Stock an Metallzäunen aus viktorianischer Zeit entlang. Die im Gehen vollzogene, scheinbar spielerische Handlung lässt eine Klangskulptur entstehen, die zugleich die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum infragestellt. Alӱs camoufliert Praktiken und Materialien, die den urbanen Raum konstituieren, und regt dazu an, über neue Formen der Raumaneignung und - gestaltung nachzudenken. Seine künstlerische Praxis schafft Möglichkeitsräume, in denen normative Ordnungen verhandelbar werden.