L.I.S.A.: Sie setzen sich in Ihren Arbeiten vor allem mit dem politischen Foucault auseinander und wenden sein Werk auf unser heutige Gesellschafts- und Wirtschaftsverfasstheit an. Stichwort: Neoliberalismus. Inwiefern können Foucaults Denken und Begriffe dabei angewendet werden?
Dr. Vogelmann: Ich halte vor allem Foucaults Denkweise für interessant und höchst geeignet, politische Diagnosen zu liefern, die brauchbar sind – d.h. die tatsächlich anzeigen können, wo sich politische Kämpfe heute lohnen. Damit meine ich zweierlei: Erstens halte ich politische Diagnosen für unverzichtbar, die „denjenigen, die kämpfen wollen“, wie Foucault einmal gesagt hat, Hinweise darauf liefern, welche Kämpfe lokal zu führen sind und gleichwohl das Potential haben, sich wirklich gegen die gesamte Rationalität des Regierens aufzulehnen, um nicht nur eine Machttechnik zur Führung von Menschen durch eine andere Machtechnik zu ersetzen, die derselben Vernunft gehorcht.
Zweitens ist damit ein leiser Zweifel ausgesprochen, ob wir uns immer noch inhaltlich auf Foucaults Diagnosen verlassen sollten. Nehmen Sie die Neoliberalismusdiagnose: Foucault charakterisiert damit eine in den 1970er Jahren dominant werdende Rationalität, wie über gutes Regieren nachgedacht wird und wie diese Rationalität politisches Handeln orientiert. Aber in den letzten dreißig Jahren ist das ja nicht einfach nur angewandt, sondern auch weiterentwickelt, kritisiert und modifiziert worden. Insofern ist gar nicht klar, ob wir heute noch einen Neoliberalismus in dem Sinne diagnostizieren können, wie Foucault das gemeint hatte. Freilich gibt es eine fortschreitende Ökonomisierung, aber dafür brauchen Sie keinen Neoliberalismus, das konnte der Liberalismus ohne Neo auch schon immer – ebenso gut wie das garstige deutsche Gewächs des Ordoliberalismus. Nein, wir müssen in den Diagnosen viel genauer werden, und dabei kann uns Foucaults Denkweise helfen, weil sie ja gerade darauf aus ist, den Durchgang durch die politische, historische Wirklichkeit zu wagen.
Allerdings muss man dafür erstmal verstehen, wie Foucault zu seinen Diagnosen kommt, mit welchen Begriffen er nach welchen Kriterien Einschnitte feststellt oder bestreitet. Dann sieht man beispielsweise, dass er den Neoliberalismus vom Liberalismus vor allem dadurch unterscheidet, dass der Neoliberalismus auf die Gesellschaft verzichtet. Statt so zu regieren, dass man zwar die ökonomischen Prozesse unangetastet lässt, aber sich dafür auf die Rahmung dieser Prozesse durch die Gesellschaft konzentriert (die „frugale“ Rationalität des Liberalismus), versuchte der Neoliberalismus, auch darauf noch zu verzichten. Thatchers berühmter Spruch „there is no such thing as society“ heißt ja auch, dass Regieren anders funktionieren muss, indem man die Techniken des Regierens individualisiert und jeden einzelnen darüber steuert, dass man ihm oder ihr die „richtigen“ Anreize bietet.
Aber das ist längst nicht mehr die Rationalität, nach der heute regiert wird. Die Gesellschaft ist zurückgekehrt, aber es ist eine „neue“ Gesellschaft, die heute von der Rationalität des guten Regierens beschworen, gefördert, ja produziert wird. Ihr Schlüsselbegriff ist „Verantwortung“: Nicht die neoliberale Regierung unabhängiger, freier und also gesellschaftsloser Individuen ist die heutige Regierungsrationalität (das war der Neoliberalismus), sondern die Regierung im Namen einer herzustellenden, schützenswerten, aber auch fordernden Gesellschaft, die uns alle füreinander verantwortlich macht. Der Soziologie Stephan Lessenich hat diesen Wechsel sehr schön anhand der vermeintlich neoliberalen Reformen des Wohlfahrtsstaats analysiert und zeigt, wie dort tatsächlich eine „Neuerfindung des Sozialen“ stattfindet – die Erzeugung eines paternalistischen Neosozialen.
Wenn diese Diagnose – die ich hier natürlich nur grob umrissen, aber mit der ich mich andernorts ausführlich beschäftigt habe – zutrifft, dann hat das gravierende Konsequenzen, auch für die Ambitionen, Theorie kritisch zu betreiben: Denn es würde bedeuten, dass die Kritik des Neoliberalismus, also die Kritik an einer Rationalität, die ohne Gesellschaft regieren möchte, längst Bestandteil einer nicht weniger perfiden, neuen Regierungsrationalität geworden ist. Ohne entsprechende Diagnose der Gegenwart laufen wir also Gefahr, noch in unserer Kritik die neue Regierungsrationalität zu stärken. Mit Foucault zu denken heißt für mich daher, insbesondere eine Sensibilität für die Effekte der eigenen Wissensproduktion auszubilden, um solche ungewollten Affirmationen zu vermeiden.