L.I.S.A.: Im Netz gibt es eine Plattform, die sich „Tindercaust“ nennt und auf der sich junge Leute mit dem Motiv des Berliner Holocaust Mahnmals selbst fotografieren. Die sogenannten Selfies zeigen Jugendliche in fröhlichen oder coolen Posen. Was sagen Ihnen diese Bilder?
Dr. Jaiser: Was sagen mir diese Bilder? Nun, diese Bilder zeugen zunächst davon, dass das Stelenfeld mit seinen 2711 Stelen einen „coolen“ Hintergrund abgibt, um mitten in der überfüllten Berliner Innenstadt, auf dem Weg zwischen Brandenburger Tor und Shopping Center, ästhetisch ansprechende Selfies machen zu können. Der Architekt Eisenman hat ja bewusst darauf verzichtet, Vorgaben auszugeben, wie dieser Ort wahrgenommen werden müsse. Selbstverständlich gibt es einige Verhaltensregeln, so dass z.B. halbnackte Sonnenanbeter dort nicht lange verweilen können, bis die Sicherheitsleute ihn oder sie vom Platz verweisen. Aber insgesamt, das möchte ich betonen, erschließen sich historische Bedeutungsebenen des Stelenfeldes eigentlich erst, wenn man die Ausstellung unterhalb des Feldes besucht.
Ich persönlich habe nicht so sehr an den Bildern Kritik. Früher fiel mir die Akzeptanz schwerer, dass dieses Denkmal so leichtfüßig und vielfältig „begangen“ wird, heute finde ich es prima, dass man, auf touristischem Pfade wandelnd, direkt darüber stolpert, dass es mitten im Leben steht und offen dafür ist, dass Leben darin stattfindet. Einzig, wenn ich mit Überlebenden des Holocaust da bin, ändert sich meine Haltung. Ich bilde mir dann ein, sie müssten zwangsläufig Anstoß daran nehmen (was durchaus nicht immer der Fall ist), ich leide darunter, wenn anscheinend niemand eine der möglichen Deutungen ernst nimmt: Dass die Stelen von ihnen nämlich als eine Art „Ersatzgräber“ für all die ermordeten Familienmitglieder wahrgenommen werden könnten. Aber dann sage ich mir wieder: Besser Lebendigkeit als Grabesstille an diesem Ort.
Mein Problem bei diesen Selfies im Stelenfeld sind die Kommentare dazu. Einige Beispiele: Schon wenn David zu Lisas Selfie postet "That shy smile could light a fire in the ovens of my heart“, dann komme ich nicht über die Wörter „fire“ und „oven“ hinweg. Denn ich assoziiere damit – ist das bereits eine Berufsschädigung? – das Feuer und die Krematorien in Auschwitz. Irritierend finde ich auch seinen Kommentar zu Chris’ Selfie "Every time I see her Miley Cyrus just gets hotter and hotter“ – es kommt mir vor wie eine Sexualisierung des Holocaustdenkmals, jedenfalls mir ist der Kommentar peinlich. Kann ich das Selfie von Sarah und den Kommentar „Looking for Love“ irgendwie mit den Stelen und ihrer Symbolik gut zusammendenken, so finde ich zahlreiche andere Kommentare dann doch wieder zu narzisstisch (Das Mädchen Heather, das nur zur Hälfte im Profil zu sehen ist und der Kommentar "What's wrong with the back of her head?“ z.B.); alles dreht sich um Sonnenbrillen, Gefallenwollen, Posen und dabei möglichst wie ein Model aussehen.
Je länger ich darüber nachdenke, je mehr möchte ich großzügig über diese Nutzung des Denkmals hinwegsehen. Warum nicht? Es ist nicht meine Welt und meine Art. Und ja, es könnte andere verletzen. Doch sind diese Bilder und Kommentare keineswegs so gemeint. Eine ganz andere Sache ist es allerdings immer noch, wenn, wie schon geschehen, eine Modefirma oder Fotoagentur hier professionelle Shootings abhält. Da wäre eine Grenze für mich überschritten.