L.I.S.A.: Wie wurde Stalin kurz nach dem Krieg von der ostdeutschen Bevölkerung wahrgenommen? Als Freund oder als Feind?
Dr. Tikhomirov: Das ist zweifellos die zentrale Frage meines Buchs. Stellen wir uns erst einmal die deutsche Gesellschaft in den letzten Kriegstagen und gleich nach der bedingungslosen Kapitulation vor. Da sind zerstörte Städte und Hunger, tausende Flüchtlinge und Vertriebene, unglaublicher menschlicher Verlust und zerstörte familiäre Beziehungen. Das ist eine besiegte, zerschlagene, entehrte Gesellschaft ohne klare Zukunftsperspektiven. Eine Gesellschaft, gepackt von der Angst vor dem Kommen der Roten Armee, deren Image die Nazipropaganda vom „gefährlichen und wilden, kulturell zurückgebliebenen und asiatischen Land“ und die damit verbundene verbreitete Überzeugung von einer panslawischen Gefahr, einer weltweiten proletarischen Revolution und einer jüdischen Weltverschwörung verstärkte. Diese ganzen negativen Konnotationen der Nazipropaganda wurden durch Stalin verkörpert.
In der Aussichtslosigkeit der Nachkriegszeit benötigte die erniedrigte und entehrte deutsche Gesellschaft einen neuen Glauben, eine neue Entwicklungsstrategie, die sie von der Last der ‘dunklen’ Vergangenheit befreien, die Mühsale der Nachkriegsgegenwart erträglich machen und Perspektiven für eine erfolgreiche Zukunft eröffnen würde. Die in Trümmern liegende Gesellschaft benötigte ein neues Koordinatensystem, neue Ziele und Aufgaben, Werte und Orientierungspunkte, Taktiken und Strategien, eine Moral und Emotionen, welche sie aus der Krise der Niederlage herausführen konnten, die durch traumatische Erfahrungen gespaltenen Deutschen zu vereinen vermochten und ihnen ein neues, positives Selbstverständnis geben würden. Man muss anerkennen, dass die Sowjetische Militäradministration in Deutschland in Zusammenarbeit mit der SED eine neue politische Entwicklungsstrategie anbieten konnte, in deren Zentrum die Aufgabe stand, die Herzen und Köpfe der Deutschen durch symbolische politische Handlungen zu gewinnen. Dazu gehörte auch der Stalinkult als neues Integrationssystem.
Für die Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone wurden sogenannte „Anfangsmythen” angeboten. Dabei handelt es sich um Narrative von der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus durch Soldaten der Roten Armee und den Mythos vom Antifaschismus. Es gab eine ganze Reihe offizieller Narrative, welche die neue politische Ordnung der Besetzung legitimieren, ein neues Wir-Gefühl für die Deutschen schaffen und Loyalität der Bevölkerung zur neuen Macht bilden sollten. Diese Narrative wurden schon bald im Image des sowjetischen Führers personifiziert und in einen Diskurs der Dankbarkeit, der Liebe und des Vertrauens zu Stalin übersetzt. Die ursprünglich aggressive sowjetische Siegerrhetorik, die von der deutschen Bevölkerung als Demütigung wahrgenommen wurde, wurde durch die Rhetorik vom „Befreier des deutschen Volkes vom Faschismus” abgemildert. Für die geschlagene Gesellschaft zeigte Stalins Image eine Strategie für die nationale und staatliche Entwicklung auf. Es bot Ressourcen und Möglichkeiten für die schnelle Lösung von Problemen. Es ermöglichte, eine Verbindung zur Geschichte des Erfolgs herzustellen und als Sieger, nicht als Besiegte aufzutreten.
Die Instabilität und Orientierungslosigkeit der Nachkriegszeit und die scheinbare Aussichtlosigkeit machten die Figur des sowjetischen Führers attraktiv. „Der beste Freund des deutschen Volkes” bot die Wahl zwischen Fortschritt und Rückschritt, Zukunft und Vergangenheit, der Lösung aktueller Probleme und existentiellem Chaos. Die Position als Besiegte und das internationale Recht ließen der ostdeutschen Gesellschaft keine andere Wahl als sich an die Realität der Nachkriegszeit anzupassen. Sie musste lernen, mit Stalin „befreundet zu sein”. In Folge wurde der weitere Ausbau des Stalinkults zur Überlebensstrategie in der Nachkriegszeit: dies war nicht das Ergebnis fanatischen Glaubens an den neuen Führer, sondern eine rationale Entscheidung mit dem Ziel, Zugang zu den notwendigen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Ressourcen zu erhalten, um einen normalen Alltag zu gewährleisten und die Diktatur der SED zu festigen.
Normalerweise hielt sich die Bevölkerung in staatlich und parteilich organisierten Bereichen – auf Parteiversammlungen, in Massenorganisationen und Marschkolonnen – an die vorgeschriebenen Rollen, sie sprach und handelte also „sowjetisch“. Hier wurde Stalin als „Freund” präsentiert. Das stand im Gegensatz zu informellen oder anonymen nicht kontrollierten Kommunikationsnischen wie Kneipen und Kantinen, Toiletten und Raucherecken, Wohnungen und Datschen, Freundes- und Familienkreisen. Hier äußerte die Bevölkerung andere, von der offiziellen Meinung abweichende, Ansichten zu Stalin. Hier war er ein „fremder Führer”, der „rote Tyrann” und wie früher „der Feind”.