L.I.S.A.: Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stützen das moderne Heldenepos? Ist es die Tat einzelner in Massengesellschaften? Ist es eine Sehnsucht nach Orientierungsfiguren in orientierungskritischen Zeiten? Oder sind es eher Insignien unseres Alltags wie beispielsweise Leistung, Wettbewerb, Konkurrenz, Rankings, Auszeichnungen etc., die den Sport als Ort des postmodernen Heldentums so anschlussfähig machen?
Prof. Bette: Mit dem aus der Architekturtheorie stammenden Begriff der Postmoderne kann ich als Soziologe wenig anfangen. Der Grund liegt auf der Hand: Wenn moderne Gesellschaften vornehmlich durch den Modus der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet sind, würde eine Postmoderne einen Zustand danach, eine Überwindung funktionaler Differenzierung durch einen anderen Differenzierungstypus bezeichnen. Eine derartige Situation kann ich nicht erkennen. Deswegen sollte man vielleicht eher von einer Spätmoderne reden oder, wie Ulrich Beck, von der Existenz einer zweiten oder reflexiv gewordenen Moderne ausgehen. Dies trifft meine Einschätzung vom Heroischen im Sport. Der Sportheld ist eine Sozialfigur, in der mit dem Leistungsprinzip und der Personen- und Körperorientierung des Handelns, der Medialisierung, Verwissenschaftlichung und Organisationsbildung Prinzipien der ersten und zweiten Moderne in einer weithin sichtbaren Weise zusammenlaufen und exemplarisch kulminieren. Damit sind wir direkt bei den Rahmenbedingungen, die das Heroische im Spitzensport befördern. Gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die das Außeralltägliche auf der Ebene von Personen routinemäßig durch Bürokratisierung, Formalisierung, Professionalisierung und Technisierung verdrängen oder sogar überflüssig machen, erhöhen die Ausdifferenzierungschance von Sozialbereichen, in denen individuelle Akteure oder Gruppen gezielt die Aufgabe zugewiesen bekommen, mit körperlichen Kompetenzen und psychischen Fähigkeiten Tatkraft zu beweisen und den alles entscheidenden Unterschied auszumachen. Exkludiertes kann in neuen Gestalten gesellschaftlich inkludiert werden. Vor dem Hintergrund postheroischer Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Religion und Militär konnte der Spitzensport zum zentralen Heldenreservat der modernen Gesellschaft aufsteigen. Die Marginalisierung traditioneller Heldenfiguren hat offensichtlich eine Lücke hinterlassen, in die der Sport mit seiner Personen- und Körperorientierung, seiner Sichtbarkeit und Theatralität, seinen agonalen Konfliktinszenierungen, der Serialität seiner Ereignisse, seinen Heldenreisen und seinen Stellvertretungsofferten hineinstoßen konnte. Der letzte Punkt ist wichtig, da Sportler und Sportlerinnen immer dann eine besondere Wertschätzung in Gestalt einer Heldenverehrung erfahren, wenn ihr Streben nach Erfolg, Ruhm und Selbstvervollkommnung nicht nur gesellschaftlich hochangesehene Werte wie Leistung, Askesefähigkeit, Opferbereitschaft und Konkurrenzfähigkeit konkret umsetzt, sondern auch die Ziele überindividueller Kollektive und Bezugsgruppen wie zum Beispiel Verein oder Nation stellvertretend miterfüllt.