L.I.S.A.: Kommen wir zur Problemlösung. Heutzutage ist uns der typische Weg vom Krankheitsgefühl, über den Arztbesuch bis zur Behandlung bekannt und auf sozialer Ebene lässt sich das Ringen um Eindämmungsmaßnahmen tagtäglich verfolgen. Wie aber sieht es im Mittelalter aus? Welche Maßnahmen ergriffen Einzelpersonen, Ärzte, Priester, aber auch Städte oder Fürsten, um der Seuchengefahr zu begegnen?
Dr. Wolff: Auch im Mittelalter fühlte man sich zunächst einmal krank. Wer konnte, legte sich ins Bett, und wer noch mehr vermochte, besuchte einen Arzt oder rief ihn sich ins Haus. Arzt war jedoch nicht gleich Arzt. Chirurgie war eine Art Ausbildungsberuf, wobei ein Teil der Ausbildung an einer Universität stattfinden konnte, dann ging es weiter bei einem Chirurgen. Es war ein praktisches Handwerk. Einen Chirurgen rief man, wenn es z. B. galt, eine Pestbeule zu öffnen (man erhoffte sich davon, das darin vermutete Pestgift loszuwerden) oder einen Aderlass vorzunehmen (damit wollte man den Überschuss an Blut abbauen, den man hinter der Pestfäulnis im Körper vermutete). In München übrigens bezahlte die Stadt im 15. Jahrhundert mehrfach auch Hebammen, die bei pestkranken Frauen Beulen aufschnitten. Dies zeigt eine weitere Rolle der Hebammen im Medizinalwesen einer mittelalterlichen Stadt. Die Doktoren der Medizin hingegen waren universitär gebildete Fachleute. Sie waren bewandert in allen Theorien der Krankheitslehre dieser Zeit, darunter der Viersäftelehre und Miasmentheorie, die von antiken griechischen Naturphilosophien abgeleitete wurden. Entsprechend begutachteten sie z.B. den Urin der Kranken, Gesichtsfarbe, Temperatur, Atem, Schweiß etc. und schlossen daraus auf mögliche Krankheitsgeschehen. Sie behandelten mit Arzneien und Diäten, zu denen sie Empfehlungen im entsprechenden Schriftgut fanden, im Fall der Pest also in Pesttraktaten und Standardwerken der Medizin, wie dem „Canon medicinae“ des berühmten persischen Arztes Avicenna (oder Ibn Sina). Priester konnten natürlich auch zum einzelnen Kranken gerufen werden, um z. B. die Krankensalbung zu erteilen oder vielleicht auch, um zu beten. In der Stadtöffentlichkeit wurden sie gehalten, in Pestzeiten bestimmte Messen zu lesen und Gesänge anzustimmen oder Prozessionen und Wallfahrten abzuhalten. Gelegentlich trug man den Priestern auf, die Stadtbewohner von den Maßnahmen der Regierung zu überzeugen, so etwa, als der Rat der Stadt Nürnberg im frühen 16. Jahrhundert erneut versuchte, eine Änderung im Bestattungswesen einzuführen. Ziel war es, nur noch außerhalb der Stadtmauern zu beerdigen, um die pestbringenden Dünste zu vermeiden. Dies stieß offenbar auf Widerstand, und man trug den Priestern der Stadtpfarreien auf, für die neuen Bestattungsgepflogenheiten zu werben.
Interessanterweise erklären sich die Stadträte seit Beginn der Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts für zuständig für die Seuchenabwehr, ohne dies ausführlicher zu erklären. Im Laufe der Pestwellen ereigneten sich natürlich auch Episoden wie die der Flucht mancher Stadträte aus der Stadt. Folglich liest man in späteren Pestordnungen, dass Amtspersonen in der Stadt zu bleiben hätten, darunter auch die Stadtärzte. Auch Luther betont, dass auch in der Pest den Verpflichtungen nachzukommen sei. Die Fürsten dagegen glänzten eher durch Abwesenheit. Die bayerischen Herzöge mieden München beispielsweise, wenn die Pest grassierte. Mehrfach mussten Dienstleute den Herzögen hinterherreisen, um nach den Neuwahlen der Stadträte ihre Diensteide zu leisten. Der französische König Philipp VI. wurde insofern aktiv, als er zu Beginn des Schwarzen Todes 1348 sofort anordnete, dass die Gelehrten der Universität von Paris ihre Expertise sammeln und in einem Traktat zur Erklärung und Bewältigung der Pest zusammenfassen sollten. Das Schriftstück wurde erkennbar in großer Eile zusammengetragen und wirkte dennoch stilprägend für alle Fachliteratur zum Thema in den folgenden Jahrhunderten. Gelebte Interdisziplinarität lässt sich übrigens für Papst Clemens VI. feststellen: Er verließ sich keinesfalls allein auf die Möglichkeiten der eigenen Institution, sondern hielt sich an seinem Hof in Avignon u. a. an die Prinzipien der Miasmentheorie zur Vermeidung einer Ansteckung.
Überhaupt lässt sich ein Crossover der Theorien und Methoden feststellen. So enthielten zum einen ausführlichere Pesttraktate Hinweise auf den göttlichen Willen als Ursache der Pest, zum anderen findet man in Pestregimina (kürzeren, oft individuell erstellten Ratgebern), die an Bischöfe gewidmet waren, auch magische Heilmittel gegen die Pest. Auch Martin Luther erklärte in seiner Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“, dass er sich der Expertise der Ärzte beuge, wenn es um die Frage nach den Bestattungen innerhalb der Städte ging.
Im Angesicht der Pest wurde alles ausprobiert, und die Expertise jeder Instanz war willkommen.