Der Historiker Reinhard Rürup ist am 6. April im Alter von 83 Jahren gestorben. Er zählte zu den bedeutendsten Geschichtsforschern und Geschichtsvermittlern seiner Generation. Vor allem die Initiativen und das Engagement für heute renommierte Institutionen wie das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, die Gedenkstätte Topographie des Terrors in Berlin sowie die Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft gehören zu den bleibenden, aber nicht alleinigen Verdiensten des Wissenschaftlers. Sein früherer Assistent am Lehrstuhl, der Historiker Prof. Dr. Michael Grüttner, hat uns in einem Nachruf-Interview den Forscher und den Menschen Reinhard Rürup nähergebracht.
"Rürup selbst hat sich gelegentlich als Kulturprotestant beschrieben"
L.I.S.A.: Herr Professor Grüttner, vor wenigen Wochen ist der bedeutende Historiker Reinhard Rürup gestorben. Sie haben lange mit ihm zusammengearbeitet. Wie erinnern Sie sich persönlich an Reinhard Rürup?
Prof. Grüttner: Den Namen Rürup hatte ich schon während meines Studiums in den 1970er Jahren kennengelernt. Damals haben uns vor allem seine Arbeiten zur Revolution von 1918/19 interessiert. Zusammen mit anderen Historikern wie Eberhard Kolb oder Gerald D. Feldman hatte Rürup Ende der 1960er Jahre die im November 1918 entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte näher untersucht und im Gegensatz zu älteren Interpretationen das demokratische Potential der Rätebewegung hervorgehoben – eine Sichtweise, die sich in der Forschung rasch durchsetzte und ihm zeitweise den Spitznamen „Räte-Rürup“ eintrug.
Persönlich lernte ich Rürup erst kennen, als ich 1984, aus Hamburg kommend, eine Assistentenstelle bei ihm an der TU Berlin erhielt. Das damalige Institut für Geschichtswissenschaft der TU Berlin, das inzwischen ein Opfer der Sparpolitik geworden ist, war ein kleines, aber ungewöhnlich interessantes und innovatives Institut. Fachlich lagen die Forschungsschwerpunkte der Abteilung Neuere Geschichte im Feld der politischen Gesellschaftsgeschichte. Eine zunehmende Bedeutung hatte die Geschlechtergeschichte, die vor allem von Karin Hausen vorangetrieben wurde. Sie und Rürup waren die prägenden Persönlichkeiten des Instituts im Bereich der Neueren Geschichte. In der Alten Geschichte stießen vor allem die Lehrveranstaltungen von Werner Dahlheim auf große Resonanz bei den Studierenden.
Unter den Lehrenden der Neueren Geschichte herrschte eine angenehme und entspannte Atmosphäre. Das wissenschaftliche Herzstück der Abteilung für Neuere Geschichte war das Forschungskolloquium, das während des Semesters einmal pro Woche tagte und auch viele Doktoranden und Habilitanden aus anderen Berliner Instituten, etwa von der FU, anzog. In den Diskussionen, die manchmal durchaus hitzig sein konnten, beeindruckte Rürup durch seine Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu entwirren und Forschungsprobleme präzise auf den Punkt zu bringen. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass alle, die in den 1980er und 1990er Jahren zu diesem Kreis von Historikerinnen und Historikern gehörten, die Zeit als einen besonders schönen und produktiven Abschnitt ihres Berufslebens erinnern.
Im persönlichen Umgang war Rürup ein ungewöhnlich liebenswürdiger Mensch, aber gewiss kein Kumpeltyp, sondern jemand, der gegenüber den Kollegen und Mitarbeitern durchaus Distanz wahrte. Er war, wie Götz Aly es formuliert hat, eine Autorität, ohne autoritär zu sein. Rürup selbst hat sich gelegentlich als Kulturprotestant beschrieben. Dazu gehörte ein hohes Maß an Selbstdisziplin. Cholerische Ausfälle, wie sie von manchen Größen der Zunft überliefert sind, habe ich bei ihm nie erlebt. Die Orientierung an moralischen Maßstäben war ihm wichtiger als den meisten anderen Historikern, die ich näher kennengelernt habe. Fachlich setzte Rürup hohe Standards für sich und seine Mitarbeiter. Er gehörte nicht zu denen, die aus Angst, den Anschluss zu verpassen, jeder intellektuellen Modewelle hinterherlaufen, aber er war ungewöhnlich offen für neue Ideen und Interpretationen.
Wir Assistenten waren ihm dankbar, dass er uns weitgehend freie Hand gelassen hat. Er hatte nie den Ehrgeiz, seine Assistenten für die Bildung einer Rürup-Schule einzusetzen. Auch Anwesenheitspflicht und ähnliche Einschränkungen gab es bei ihm nicht. Bemerkenswerterweise haben sich dennoch alle, die als Assistentinnen und Assistenten bei Rürup gearbeitet haben, habilitiert.