Der Herbst ist da und mit ihm die wohl schönste Jahreszeit in Paris. Doch bei dem Gedanken an die Stadt der Lichter denken die meisten vermutlich eher an die Champs-Élysées als an die Großbausiedlungen von Aubervilliers oder Sarcelles. Die Historikerin Prof. Dr. Christiane Reinecke tut jedoch genau das. In Ihrem neuen Buch „Die Ungleichheit der Städte. Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik“ stellt sie die Peripherie ins Zentrum und entwirft daraus einen neuen Blick auf soziale Ungleichheit. Im Interview hat sie uns Fragen zur Entwicklung und zum Umgang mit den Problemlagen im städtischen Raum beantwortet.
"Klischeehafte Darstellungen, die viel darüber aussagen, wie wir unsere Gesellschaft verstehen"
L.I.S.A.: Frau Prof. Dr. Reinecke, in Ihrem neuesten Buch „Die Ungleichheit der Städte. Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik“ beschäftigen Sie sich mit einem Thema, das viele in ihrem Alltag vermutlich lieber ausklammern würden. Warum haben Sie das nicht getan? Würden Sie uns etwas mehr darüber verraten, was die Hintergründe dieses Buches sind und was Sie dazu bewegt hat, sich gerade dieses Thema vorzunehmen?
Prof. Reinecke: Als Historikerin befasse ich mich zwar mit der Vergangenheit, aber die Fragen, die mich umtreiben, haben viel mit unserer Gegenwart zu tun. Dabei sind es vor allem drei Beobachtungen, die mich dazu bewegt haben, dieses Buch zu schreiben.
Nachdem ich mich davor lange mit migrationsgeschichtlichen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts befasst habe, hat mich erstaunt, wie häufig Migration und die Diversität städtischer Räume in aktuellen politischen Debatten als irgendwie neue Phänomene dargestellt werden. Und das, obwohl westeuropäische Gesellschaften wie die deutsche oder französische im 20. Jahrhundert durchgehend von Migration geprägt waren und es aus historischer Sicht gute Gründe dafür gibt, urbane Probleme zunächst einmal auf den unterschiedlich verteilten Zugang zu Chancen und Ressourcen zurückzuführen und nicht einfach auf „die Migration“.
Und das ist die zweite Frage oder das zweite Wundern, das am Anfang meines Buchs stand: Ich kannte Studien über Armut, Wohnungleichheit und Segregation in Großstädten des ausgehenden 19. Jahrhundert. Auch wusste ich, wie viel sich anhand der damaligen Faszination für sogenannte Slums über den Umgang mit „Klasse“ und „Rasse“, über Expertenwissen, kolonial geprägte Sozial- und Segregationspolitiken und gesellschaftliche Selbstbeschreibungen lernen lässt. Aber ich wusste deutlich weniger darüber, wie sich Ungleichheiten im urbanen Wohnen bzw. wie sich die Auseinandersetzung damit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten. Ob es im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert Äquivalente zu den viel besuchten und viel diskutierten Slums des späten 19. Jahrhunderts gab, diese Frage hat mich fasziniert.
Drittens schließlich fiel mir auf, wie häufig aktuell in den Medien und in politischen Diskussionen konkrete Wohnsituationen herangezogen werden, um deutlich zu machen, was Armut, Ungleichheit oder Diversität konkret bedeuten. Oft sind solche Konkretisierungen, bei denen, sagen wir mal: die im Weddinger Sozialwohnungsbau lebende migrantische Hartz-4-Familie der im Prenzlauer Berg wohnenden nicht-migrantischen Akademikerfamilie gegenübergestellt werden, klischeehaft. Es sind klischeehafte Darstellungen, die aber viel darüber aussagen, wie wir unsere Gesellschaft verstehen und ordnen. Und die Frage, wer oder was Einfluss darauf hat, wie wir Gesellschaft verstehen und was wir als gesellschaftliches Problem betrachten: Diese Frage interessiert mich besonders. Zumal gerade historische Analysen zeigen, dass sich zwar permanent verschiebt, was als „Problem“ gilt, dass solche Problemdefinitionen aber massiv politische Entscheidungen beeinflussen – und damit auch die Realität in den Städten, in denen wir leben. Wie Expert:innen, Journalist:innen und kommunalpolitische Akteure, durchaus aber auch Aktivistinnen und Aktivisten urbane Probleme definierten und auf diese Weise städtische Sozial- und Wohnpolitiken prägten, das ist jedenfalls ein zentrales Thema meines Buchs.
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Christiane Reinecke, Am Rande der Gesellschaft? Das Märkische Viertel – eine West-Berliner Großsiedlung und ihre Darstellung als urbane Problemzone, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 11 (2014), S. 221-234, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2014/5095