Das Selfie hat keinen guten Ruf. Aber alle haben bestimmt schon eines gemacht und es wahrscheinlich sogar ins Netz geladen. Selfies sind in den Augen von Kritikern ein Indikator für Narzissmus einerseits und Naivität im Umgang mit dem Selbstbild in der Aufmerksamkeitsökonomie andererseits. Aber erschöpft sich damit schon der Blick auf und das Verständnis von Selfies? Der Kultur- und Medientheoretiker Prof. Dr. Ramón Reichert von der Universität für Angewandte Kunst in Wien hat das Selfie einer eingehenden Betrachtung unterzogen und eine Theorie des digitalen Selbstbildnisses entwickelt, die sowohl die kulturpessimistischen Überlegungen berücksichtigt, aber darüber hinaus auch eine emanzipatorische Wirkmächtigkeit von Selfies ausmacht. Wir haben Professor Reichert dazu unsere Fragen gestellt.
"Selfie-Formate beherrschen heute die Bildkulturen der Gegenwart"
L.I.S.A.: Herr Professor Reichert, Sie haben ein neues Buch publiziert, das sich einem Kultur- und Medienphänomen widmet, das alle kennen und sehr wahrscheinlich auch schon an sich ausprobiert haben: das sogenannte Selfie. Es geht darin um Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur, so auch der Untertitel des Buches. Bevor wir auf das Buch konkret zu sprechen kommen - was hat Sie zu dieser Publikation veranlasst, zu einem Thema, das bereits vielfach untersucht worden ist? Welche Beobachtungen und Überlegungen gingen Ihrem Buch voraus?
Prof. Reichert: Das Buzzword "Selfie" feiert sein 10-jähriges Jubiläum. Für mich bot sich der Anlass für eine Rückschau auf die Geschichte eines Medienhypes. Heute zählen Selfies zum alltäglichen Medienhandeln in digitalen Lebenswelten, sie sind nicht nur Verstärker von Aufmerksamkeiten digitaler Ego-Netzwerke, sondern Selfie-Formate beherrschen heute die Bildkulturen der Gegenwart.
Konkret bedeutet das, dass wir eine globale Verbreitung von subjektzentrierten Narrativen beobachten können. Mediale Inszenierungen von Intimität und persönlicher Lebensweltlichkeit prägen heute das kollektive Bildgedächtnis und schaffen Rahmennarrative automedialer Inszenierungen, die auf Sozialen Medien zu Nachrichtenfaktoren werden und öffentliche Meinungen prägen.
Selfies haben sich längst auf alle Bereiche des politischen Bildhandelns ausgedehnt und kuratieren heute auch kriegerische Auseinandersetzungen, Terror und Genozid. Als Garant von Aufmerksamkeitskapital regulieren Selfies digital vernetzte Kommunikationsräume und beeinflussen das Agenda Setting öffentlicher Debatten, sozialer Identitäten und kollektiver Erinnerung. Selfies bieten auch eine Chance der Sensibilisierung der Öffentlichkeit, indem sie die Aufmerksamkeit auf Minderheitenpolitik, zivilgesellschaftliche Bewegungen und ökologische Themen und vieles andere mehr lenken können.