L.I.S.A.: Gerade hat die Tour de France begonnen, zum 106. Mal. Die Berichterstattung schwankt seit dem Bekanntwerden von prominenten Dopingfällen zwischen Faszination für die Leistungen und einem Generalverdacht gegenüber dem gesamten Rennzirkus. Seitdem polarisiert der Radsport die öffentliche Meinung. Warum und welche Rolle spielen dabei die Medien?
Prof. Leinen: Ohne die Medien, aber auch die Literatur und den Film, dürfte Sport als Phänomen einer Massengesellschaft kaum noch vorstellbar sein. Die Rolle der Medien ist dabei höchst ambivalent, wie auch einige Beiträge in unserem Band deutlich machen. Zum einen leben sie davon, dass sich ein möglichst großes Publikum von der Inszenierung der „Tour der Leiden“ und der Dramatisierung des Sports in den Bann ziehen lässt. Zum anderen zählt es zu den Aufgaben des Sportjournalismus, aber auch des politischen Journalismus, investigativ zu arbeiten und Licht ins Dunkel der negativen Seiten des Leistungssports zu bringen. Wer jedoch investigativ arbeitet und sich kritisch zur Organisation der Tour, der Marktmacht der A.S.O.(Amaury Sport Organisation, Ausrichter der Tour de France) oder dem Problem des Dopings äußert, setzt sich sehr schnell der Gefahr aus, dass ihm die A.S.O. die Akkreditierung entzieht und er somit keinen oder nur einen sehr erschwerten Zugang zu entsprechenden Informationen erhält. Auch hiervon ist in unserem Band die Rede. Die gezielte Steuerung des Informationsflusses in Zusammenhang mit der Marktmacht der A.S.O. als Global Player, der nicht nur die Tour de France, sondern weltweit auch viele andere publikumswirksame Veranstaltungen organisiert, ist kaum zu unterschätzen. Dieses Problem betrifft jedoch alle Sportarten, die im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen.
Wenn der Radsport heutzutage dermaßen polarisiert, so ist dies aber auch das Ergebnis einer Verbandspolitik, die seit den großen Doping-Skandalen darauf angelegt ist, im Zusammenwirken mit der WADA Transparenz zu schaffen. Deswegen ist in keiner anderen Sportart die Kontrolldichte höher als im Profi-Radsport, so dass jeder aufgedeckte Doping-Fall den Eindruck befördert, hier würde besonders intensiv betrogen. Zudem ist die „Fallhöhe“ der Sportler sehr groß, wenn sie eines Vergehens überführt werden, da sie zuvor oftmals von den Medien zu Helden mit schier übermenschlichen Eigenschaften stilisiert worden sind. Andere Verbände sind im Vergleich mit dem internationalen Radsportverband UCI (Union Cycliste Internationale) viel zurückhaltender, um das Image eines „sauberen Leistungssports“ aufrecht halten zu können.
Das Problem ist aber grundsätzlicher Art: Das Publikum wünscht sich spannende Wettkämpfe mit immer neuen Bestleistungen, und der Konkurrenzdruck unter den Athleten ist immens. Hinzu kommt die extrem ungleiche Bezahlung, die, wie zuletzt öffentlich wurde, zum Beispiel Danilo Hondo dazu brachte, Blutdoping zu betreiben, um in die Spitzengruppe der am besten bezahlten Profis vorzustoßen. Während der Sieger der Tour de France 500.000 Euro Preisgeld erhält, geht der Zehntplatzierte mit gerade mal 3.800 Euro nach Hause, obwohl seine Leistung nur wenig hinter der des Siegers zurücksteht. Dies schafft natürlich Anreize, auf verbotene Weise nachzuhelfen. Eine bessere und ausgeglichenere Entlohnung der Radprofis – das Mindestgehalt eines World-Tour-Fahrers liegt bei nur 36.000 Euro – würde im besten Fall den Anreiz zu dopen senken, ebenso längere Sperren für Fahrer, die sich dieses Vergehens schuldig gemacht haben.