Frankreich und Deutschland haben zuletzt Proteste erlebt, die sich gegen die Politik bzw. gegen politische Maßnahmen der jeweiligen Regierung richten. In Frankreich protestieren die sogenannten Gelbwesten bereits seit Jahren gegen die Liberalisierungspolitik der Administration Macron, in Deutschland richtet sich der Unmut gegen die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. So unterschiedlich die jeweiligen Anliegen sind, so ähnlich sind die öffentlichen und veröffentlichten Reaktionen auf beide Proteste, die jeweils als unberechtigt und von rechts unterwandert wahrgenommen und dargestellt werden. Wir hatten den in Berlin lebenden französischen Schriftsteller Guillaume Paoli bereits Anfang des Jahres um eine Einschätzung der sogenannten Gelbwestenbewegung gebeten. Nun hat er zuletzt in Berlin die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen erlebt. Wir haben ihm Fragen zu einem Vergleich beider Protestformen gestellt.
"Ein Ventil, um Ängste und Frustrationen rauszulassen"
L.I.S.A.: Herr Paoli, wir hatten Sie Anfang des Jahres um einige Antworten auf Fragen zur Gelbwestenbewegung in Frankreich gebeten. Grundlage war ihr Buch über die Gilets jaunes, die Sie auch vor dem Hintergrund von Demonstrationen und Proteste gegen staatliche Politik betrachtet haben. Nun erleben wir in Zeiten der Corona-Pandemie, dass in Deutschland gegen staatliches Handeln bzw. Maßnahmen der Politik zur Eindämmung des Virus leidenschaftlich protestiert wird. Wieder kursieren in den unterschiedlichen Medien Bilder und Videos von den Protesten und von polizeilicher Gewalt. Wieder stellen sich die leitenden Medien überwiegend gegen die Proteste. Sind die Proteste miteinander vergleichbar? Gibt es ähnliche Muster? Oder haben wir es hier mit zwei grundverschiedenen Formen des Protestes zu tun?
Paoli: Sobald Proteste nicht von Parteien, NGOs oder Gewerkschaften ausgehen, haben sie zumindest diese eine Gemeinsamkeit. Sie sind spontan und deswegen ziemlich unberechenbar. Da ein vorbestimmtes Programm fehlt, stehen heterogene, oft konfuse und widersprüchliche Ansichten nebeneinander. Es nimmt also nicht Wunder, dass gewisse Aspekte sowohl bei den französischen Gelbwesten als auch bei den deutschen Corona-Protesten präsent sind. Was beide allerdings trennt, ist die soziale Herkunft. In Frankreich ging die Bewegung von Geringverdienenden aus. Von Menschen, die zumeist in jenen Branchen beschäftigt sind, die seit Ausbruch der Pandemie als „systemrelevant“ gelten – und wir wissen, was damit gemeint ist: Selbst, wenn Schutzmaßnahmen unzureichend oder unmöglich sind, selbst wenn ein akutes Ansteckungsrisiko besteht, der Job muss getan werden. Wer unter solchen Verhältnissen arbeitet, der wird vermutlich Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Abstandsregeln im Supermarkt nicht als sonderlich gravierende Einschnitte in die bürgerliche Freiheit empfinden. Solche Probleme muss man sich erst einmal leisten können...
Damit wären wir bei einem weiteren Unterschied. Die Wut der Gelbwesten war real, für einen Augenblick hatte ihr Aufstand die Regierung in Panik versetzt. Im Vergleich kommen einem die „Corona-Proteste“ wie ein großes Psychodrama vor. Glauben diese Empörten wirklich, sie leben in einer „Diktatur“, die sie stundenlang demonstrieren lässt, obwohl sie die Auflagen nicht einhalten? Ich habe eher den Eindruck, dass sie Protest schauspielern. Von polizeilicher Gewalt kann übrigens keine Rede sein; bei jeder linken Demonstration werden Wasserkanonen großzügiger eingesetzt. Für die Politik ist das Psychodrama ärgerlich, gewiss, kann aber als harmloses Ventil in Kauf genommen werden, um die Ängste und Frustrationen rauszulassen, die mit Covid-19 entstanden sind.