L.I.S.A.: Noch einmal ein Blick auf die Erzählungen, die sowohl die Teilnehmer der sogenannten Coronademos als auch die der Gegendemos mit sich führen: die Gegner der staatlichen Maßnahmen wähnen sich in einer Diktatur, in der willkürlich bürgerliche Freiheiten ausgesetzt werden. Flankiert werde diese Politik von einer koordinierten Propaganda seitens gleichgeschalteter Medien. Auf der anderen Seite sehen die Gegner dieser Coronademos die Weimarer Republik wiederkehren. Extremisten drohten die Fundamente der Republik zu unterminieren und steuerten auf einen neuen Faschismus zu. Warum dieser Rückgriff auf solche extremen Lesarten der Ereignisse? Oder ist das ganz typisch für Zeiten von Krise und Unsicherheit?
Paoli: Nun ja, seit ich denken kann, höre ich, dass der Faschismus ante portas steht. Das ist an sich nichts Neues. Mit „Wehret den Anfängen!“ lassen sich ja Menschen immer gut zusammentrommeln. Hinzu kommt insbesondere in Deutschland die Sehnsucht nach moralischer Wiedergutmachung. Man würde gern an einem Reenactment der Weimarer Republik teilnehmen, nur diesmal mit glücklichem Ausgang. Damit meine ich nicht, dass es in Wirklichkeit keine rechtsextremen verschwörerischen Unternehmungen gebe – siehe die ominöse Verquickung von Teilen der Polizei und der Bundeswehr mit dem „NSU 2.0.“ Aber das ist eine andere Geschichte.
Was diese Bewegungen betrifft, scheinen mir drei Aspekte wichtig. Zum einen ist es heute dank sozialer Netzwerke und selbstgebastelter Medienplattformen möglich, in eine Parallelwelt komplett einzutauchen, mit vielen Gleichgesinnten, eigenen Autoritäten (Wodarg statt Drosten) und alternativen Faktendarstellungen. Oft beteuern Corona-Zweifler, wie emsig sie „recherchieren“ - leider tun sie das immer im selben geschlossenen Netzwerk. Auf diese Weise schrumpft die Welt da draußen zu einer weiteren Blase. Die Minderheitscommunity zweifelt nicht daran, „das Volk“ zu sein, nicht jedoch, weil sie wie im Faschismus die Anderen physisch eliminieren möchte, sondern weil es in ihrer abgeschotteten Welt die Anderen gar nicht gibt! So kommen wir zum zweiten Aspekt, nämlich das Abhandenkommen der rationalen Argumentation. Nicht nur wird der Sinn der Worte entleert, nicht nur werden Fakten selektiert und notfalls erfunden, selbst der logisch-argumentative Rahmen für eine regelrechte Auseinandersetzung wird nicht anerkannt. Anscheinend brauchen solche Bewegungen nicht einmal, sich überzeugend zu artikulieren, um Anhänger zu gewinnen. Drittens, und damit kommen wir zum wesentlichen Punkt: Wir erleben in der Tat extreme Ereignisse, die auch noch simultan eintreten: Pandemie, Umweltkatastrophen, Wirtschaftskrise, wachsende Ungleichheit. Angesichts dessen wirkt der übliche nüchtern-beschwichtigende Diskurs der Politik immer unglaubwürdiger. Die argwöhnische Frage, ob „sie“ uns die Wahrheit verheimlichen, resultiert aus einer Kontrollillusion. In gewissem Sinne sind Verschwörungsgläubige doch Opfer der Regierenden, weil diese allzu oft ihre Politik nach dem kategorischen Imperativ richten: Handle immer so, als ob du das selbst entschieden hättest, wogegen du eh nichts tun kannst. Absurd an der jetzigen Empörung gegen Angela Merkel ist aber, dass sie gegenüber der Corona-Pandemie die Grenzen ihres Wissens und ihrer Gestaltungsmacht offen zugibt.