L.I.S.A.: Der Untertitel Ihres Buches verspricht eine Sozialgeschichte. Für diese haben Sie Mitgliederverzeichnisse von süddeutschen Freikorps ausgewertet. Was konnten Sie über die soziale Zusammensetzung dieser Freikorps herausfinden?
Dr. Pomplun: Als auffälligste Befunde der Untersuchung lassen sich in diesem Zusammenhang sicherlich die Zahlenverhältnisse zu den Freikorpsmitgliedern aus der Arbeiterschaft einerseits und aus dem alten Offizierskorps andererseits anführen.
Die Arbeiterschaft – dazu zählen nicht nur die ungelernten Arbeiter und die Facharbeiter, sondern auch die Handwerksgesellen – machte insgesamt knapp zwei Drittel der Freikorpskämpfer aus. Ein erstaunliches Ergebnis, wenn man von den bisherigen in der Literatur überlieferten Angaben ausgeht, die oftmals einen natürlichen Gegensatz zwischen den paramilitärischen Einheiten und der Arbeiterschaft annehmen. Doch die politische Klammer, die das sozialistische Lager vor dem Ersten Weltkrieg noch zusammengehalten hatte, war mit der Spaltung der Sozialdemokratie 1917 verloren gegangen. In der Revolutionszeit wurde die Kluft zwischen MSPD und USPD größer. Die Bereitschaft der neuen Regierung, Ende 1918 mit Gewalt gegen aufbegehrende Matrosen und Arbeiter vorzugehen und letztendlich auch die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts im darauffolgenden Januar zu dulden, ließ die Gräben immer tiefer werden, sodass sich 1919 Anhänger der mehrheitssozialistischen Regierung und der neu entstandenen KPD unversöhnlich und gewaltbereit gegenüberstanden. Verständlich wird dieser große Arbeiteranteil dann, wenn man sich ansieht, wer 1919 die Werbetrommel für die paramilitärischen Einheiten gerührt hat: Da finden sich neben der MSPD-geführten Regierung auch Vertreter der USPD, hohe Gewerkschaftsfunktionäre, einzelne Arbeiter- und Soldatenräte oder christliche Arbeiterorganisationen, die die gewaltsame Niederschlagung von Streiks und Aufständen durchaus für richtig hielten und insbesondere unter der Arbeiterschaft für tatkräftige Unterstützung der Freikorps warben. Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass die Einheiten manch einem in Zeiten privater wirtschaftlicher Ungewissheit auch als Versorgungsmöglichkeit dienen konnten.
L.I.S.A.: Wie sieht es bei den Offizieren des Ersten Weltkriegs aus, die man intuitiv eher mit in den Freikorps verbinden würde als Arbeiter?
Dr. Pomplun: Ein Blick ans andere Ende des sozialen Spektrums zeigt, dass Offiziere des alten Weltkriegsheeres, die ja in hohem Maße nationalistisch und oftmals auch gegenrevolutionär eingestellt waren, nicht übermäßig stark in den Reihen der Freikorps zu finden waren. Ihre Zahl ist von der Forschung deutlich überschätzt worden. Dabei haben schon zeitgenössische Studien gezeigt, dass der allergrößte Teil von ihnen trotz der wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen nach dem Krieg ihre soziale Stellung durch Pensionen oder einen beruflichen Wechsel halten konnte. Die Auswertung der Freikorps-Stammrollen hat eine damit in Übereinstimmung stehende zahlenmäßig geringe paramilitärische Beteiligung von Offizieren in den Nachkriegsmonaten bestätigt. Ohnehin muss der Stellenwert des drohenden oder tatsächlich erlebten sozialen Abstiegs als Motiv für eine paramilitärische Betätigung nach dem Weltkrieg kritisch hinterfragt werden. Eine in der Literatur angenommen allgemeine soziale Abwärtsmobilität unter den Freiwilligen lässt sich für die Freikorpskämpfer anhand der Daten nicht belegen.
L.I.S.A.: Wie sah der typische Freikorpskämpfer aus?
Dr. Pomplun: Wenn es ein typisches Merkmal der Freikorpskämpfer gegeben haben mag, dann war es ihr junges Alter: 70 Prozent von ihnen waren 1919 nicht älter als 24 Jahre, weitere 15 Prozent nicht älter als 29. In erster Linie waren also Angehörige der jüngeren Front- und der Kriegsjugendgeneration in den Freikorps aktiv.
L.I.S.A.: Inwieweit sind die Erkenntnisse aus dieser „süddeutschen“ Stichprobe auf den Rest Deutschlands übertragbar?
Dr. Pomplun: Die untersuchten Einheiten stammten in der Tat alle aus dem Süden und Südwesten des Reiches, da für norddeutsche Freikorps keine adäquaten Daten zur Sozialgeschichte vorliegen, schon gar nicht in der detaillierten Form von Stammrollen, auf die sich meine Untersuchungen ganz wesentlich stützen. Selbstverständlich kann ein methodischer Bias bei der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf norddeutsche Freikorps nicht ausgeschlossen werden. Dies würde allerdings voraussetzen, dass es tatsächlich relevante Unterschiede zwischen süd- und südwestdeutschen Freikorps einerseits und norddeutschen bzw. preußischen andererseits gegeben hat. Dem lässt sich jedoch aus Plausibilitätsgründen widersprechen. So stammten die hier untersuchten Einheiten aus wirtschaftlich stark heterogenen Regionen, die entweder vorwiegend landwirtschaftlich oder vorwiegend handwerklich-industriell geprägt waren und somit bereits untereinander ein breites Spektrum sozioökonomischer Bevölkerungsstrukturen abbilden und ein vielschichtiges Gesamtbild der Sozialstruktur liefern. Da also schon die süd- und südwestdeutschen Einheiten kein homogenes Sample bilden, ist anzunehmen, dass es sich im Fall der norddeutschen bzw. preußischen Freikorps nicht anders verhält, schließlich wurden sie unter denselben politischen und wirtschaftlichen Bedingungen des unmittelbaren Kriegsendes aufgestellt. Landesspezifische, das Gesamtbild verzerrende Unterschiede sind also nicht anzunehmen. Tatsächlich deuten einige Vergleichsdaten eher auf Gemeinsamkeiten in der Organisation der Einheiten hin wie die Zahlenverhältnisse von Offizieren zu Unteroffizieren und Mannschaften. Auch die sich gleichenden Reaktionen der Offiziere in Nord- und Süddeutschland auf die veränderte sozioökonomische Situation nach dem Weltkrieg fallen auf.