Bis zum Sommer 2022 gehen wir auf Spurensuche an den Grabtextilien aus dem Sarg des Trierer Bischofs Paulinus, der im Jahr 358 unter kaiserlicher Verbannung in der Region Zentralanatoliens verstarb und kurze Zeit später von seinen christlichen Anhängern in seine heutige Grabstätte, die Krypta von St. Paulin in Trier, überführt wurde. Das Grab des Paulinus bleibt aber für unser Vorhaben unangetastet, denn von der letzten Graböffnung im Jahr 1883 sind insgesamt sieben kleine Päckchen gefüllt mit Textilfragmenten überliefert, die man damals für weitere Untersuchungen aus dem Grab entnommen hat. Einige dieser Textilien sind der Forschung bereits bekannt, doch die meisten Fundpäckchen sind noch ein unbekanntes Puzzle aus hunderten kleinster Teile...
Yes or No? Große und kleine Entscheidungen, bevor es richtig losgeht
Wie geht es jetzt weiter?
Könnten wir die Päckchen auch so unberührt erhalten, wie sie sind, aber trotzdem die Textilien untersuchen?
Wie fangen wir an? Sollen wir die Fundpäckchen tatsächlich auspacken und auflösen? Immerhin liegt diese Zusammenstellung knapp 140 Jahre zurück und hat damit auch eine historische Dimension im Sinne der Objektgeschichte. Wie wurden die Textilien damals überhaupt entnommen? Von verschiedenen Stellen im Grab? Oder aus nur einem Bereich von oben nach unten – also in stratigrafischer Reihenfolge? Dazu gibt es leider keine Protokolle, Skizzen oder Fotos. Könnten wir die Päckchen auch so unberührt erhalten, wie sie sind, aber trotzdem die Textilien untersuchen? Zum Beispiel mittels Computertomografie und einer virtuellen Freilegung bzw. Entfaltung der Textilfragmente? Was spricht dafür und was dagegen?
Argumente für eine Erhaltung der Fundpäckchen im überlieferten Zustand
- Die Auflösung der Fundpakete bedeutet einen unwiederbringlichen Eingriff in den überlieferten Befund. Es besteht das Risiko, dass enthaltene Informationen trotz detaillierter Dokumentation verloren gehen bzw. übersehen werden.
- Bei dem Verzicht auf invasive Eingriffe stehen die überlieferten Quellen zukünftigen Forschungen in unverändertem Zustand zur Verfügung.
- Die bisherigen Alterungsprozesse und deren Auswirkungen an den Textilien sind nie vollständig fassbar, sodass auch die Auswirkungen invasiver Eingriffe nur bedingt im Vorfeld abschätzbar sind. Bei einer Auflösung der Fundpäckchen besteht daher die Gefahr einer zusätzlichen Schädigung der Textilien bzw. der Beschleunigung von Alterungsprozessen.
- Möglicherweise werden zukünftig noch bessere Methoden für die nicht-invasive Erfassung solcher Fundkomplexe entwickelt.
Argumente für eine Auflösung der Fundpäckchen
- Die Textilfragmente sind extrem fragil und brechen bereits bei geringster mechanischer Belastung. Daher ist das Risiko einer Schädigung innerhalb der Fundpakete außerordentlich hoch. Eine Selektierung der Textilien und sachgerechte Lagerung würde die langfristige Erhaltung des sensiblen Materials begünstigen.
- Auch wenn die Respektierung des gesamten überlieferten Bestandes nach den ethischen Grundsatzpapieren zur Restaurierung an erster Stelle steht, so ist z.B. nach der Charta von Venedig (Art. 11) „die Aufdeckung verdeckter Zustände […] gerechtfertigt, wenn der aufzudeckende Bestand von hervorragendem historischen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Wert ist […]“. Auch in der Charta von Lausanne (Art. 5) rechtfertigt der zu erwartende wissenschaftliche Erkenntnisgewinn eine Untersuchung unseres archäologischen Erbes.
- Die Textilien wurden 1883 explizit als Probenmaterial für weitere Untersuchungen entnommen, insofern führen wir die damals begonnenen Forschungen fort, ohne dabei das wieder verschlossene Grab des Paulinus zu beeinträchtigen.
- In dem Dokument von Nara zur Echtheit und Authentizität versteht man unter dem Begriff Erhaltung „alle Bemühungen, die das Ziel haben, das Kulturerbe zu verstehen“. Am Originalmaterial sind vermutlich mehr und andere Informationen ablesbar – und auch der Öffentlichkeit vermittelbar – als über virtuelle Formate.
In Absprache mit dem Museum am Dom in Trier – als Eigentümer bzw. Verwalter der Funde – haben wir uns für eine Auflösung der Fundpäckchen im Sinne einer Fortsetzung der Forschungen bei gleichzeitiger Konservierung der fragilen Textilien entschieden. Allerdings wird deutlich, dass es bei so vielschichtigen Überlegungen am Ende oft kein klares Richtig oder Falsch gibt.
Bei so vielschichtigen Überlegungen gibt es am Ende oft kein klares Richtig oder Falsch.
Planung, Dokumentation und weitere Maßnahmen
Umso wichtiger ist nach einer solchen Entscheidung ein guter Plan! Zur Strukturierung und Priorisierung der nötigen Schritte bei der Auflösung und Bearbeitung der Fundpäckchen hilft zum Beispiel eine Mindmap. Die von uns erstellte Mindmap bezieht sich auf die separierten Textilfragmente und beginnt zu dem Zeitpunkt, wenn die Fragmente aus den Päckchen entnommen werden.
Mit den entfalteten und untersuchten Fragmenten beginnt dann schließlich das große Puzzle-Spiel!
Um die Textilfragmente überhaupt untersuchen zu können, müssen sie nicht nur aus den Päckchen entnommen, sondern zunächst auch entfaltet werden. Dafür ist eine schrittweise Befeuchtung notwendig, um das extrem spröde und ausgetrocknete Fasermaterial wieder flexibel zu machen. Wie das genau funktioniert, berichten wir im nächsten Blogbeitrag. Allerdings hängt die Entscheidung für eine Befeuchtung von verschiedenen Faktoren ab und kann erst nach einer ersten mikroskopischen Untersuchung erfolgen. Im Fall von Auflagerungen, Verkrustungen oder anderen Auffälligkeiten sind zunächst Materialanalysen nötig, die vielleicht antike Klebstoffe oder zum Beispiel aktiven mikrobiellen Befall anzeigen könnten.
Alle Fragmente werden dokumentiert und in ihrer ursprünglichen Lage im Päckchen kartiert. Je nach Fragestellung sind zunächst nicht-invasive Analysemethoden geplant, die uns beispielsweise Hinweise auf Farbstoffe und Gewebebindungen liefern. Danach kann individuell entschieden werden, welche weiteren Untersuchungen aufschlussreich wären. Mit den entfalteten und untersuchten Fragmenten beginnt dann schließlich das große Puzzle-Spiel! Finden wir Passstücke und lassen sich größere Gewebeabschnitte aus den kleinen Fragmenten rekonstruieren?
In unserem nächsten Blogbeitrag berichten wir, wie und warum Seide überhaupt altert, wie eine Wellness-Werkstatt für fragile Falten aussieht und was sich alles in einem einzigen Fundpäckchen verbirgt. Also bis zum nächsten Mal!
Weiterführende Informationen
Die bisherigen Forschungen zu den Paulinus-Seiden
- Albert/B. Dreyspring, Bisher unpublizierte Textilfunde aus der Bestattung des hl. Paulinus und dem Bistumsarchiv in Trier. In: S. De Blaauw/E. Enss/P. Linscheid (Hrsg.), Contextus. Festschrift für Sabine Schrenk. Jahrbuch für Antike und Christentum Ergänzungsband 41 (Münster 2020), 35-70.
- Braun, Die spätrömischen Stoffe aus dem Sarkophag des Hl. Paulinus zu Trier. Zeitschrift für christliche Kunst 9 (1910), 280-284.
- Braun, Nochmals das Gewebe aus dem Sarkophag des Hl. Paulinus. Zeitschrift für christliche Kunst 11 (1910), 348-350.
- de Jonghe/M. Tavernier, Die spätantiken Köper 4-Damaste aus dem Sarg des Bischofs Paulinus in der Krypta der St.-Paulinus-Kirche zu Trier. Trierer Zeitschrift 40/41 (1977/78), 145-174.
- Dreyspring/S. Schrenk, Seidenfragmente mit Spuren einer Stickerei aus dem Paulinusgrab. In: A. Demandt/J. Engemann (Hrsg.), Konstantin der Große: Imperator Caesar Flavius Constantius, Ausstellungskatalog Trier (Mainz 2007), Kat. II.434 (CD-ROM).
- Schneider, Die Krypta von St. Paulin zu Trier. Jahrbücher des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande 78 (1884), 167-198.
- Schrenk, Die spätantiken Seidengewebe in Trier. In: A. Demandt/J. Engemann (Hrsg.), Konstantin der Große: Imperator Caesar Flavius Constantius. Ausstellungskatalog Trier (Mainz 2007), 416-417.
- P. Wild, Makers’ marks – on textiles? In: D. Bird (Hg.), Dating and Interpreting the Past in the Western Roman Empire. Essays in Honour of Brenda Dickinson (Oxford 2012), 245-54.
Aktuelles zur virtuellen Aufdeckung archäologischer Textilien mittels Computertomografie
- Susanna Harris, „Looking inside the past“ Forschungsprojekt an der Universität Glasgow zur Untersuchung des spektakulären Wikingerschatzes von Galloway (Schottland). Mittels mikro-Computertomografie sollen insbesondere die kostbaren Textilien, darunter auch byzantinischer Seidensamit, virtuell sichtbar gemacht werden.
- Krausse/S. Brather/J. Scheschkewitz/N. Ebinger/I. Stork (Hrsg.), Lauchheim I. Beiträge zur Computertomographie als Dokumentationsmethode, zur Textilarchäologie und zur Bestattungspraxis in der frühen Merowingerzeit (Wiesbaden 2020).
Restaurierungsethik zum Nachlesen
- Die genannten Grundsatzpapiere (Charta von Venedig, Charta von Lausanne, Nara-Dokument) und viele andere sind als download auf der Verbandsseite der Restauratoren (VDR) verfügbar.
- Eine aktuelle Publikation zum Thema: Schädler-Saub/B. Szmygin (Hrsg.), Conservation Ethics Today. Are our conservation-restoration theories and practices ready for the 21st century? (Florenz-Lublin 2019).
Interview zum Thema
Welche Spuren hinterlässt der Transport eines Leichnams von Kleinasien nach Trier im archäologischen Befund? Diese Fragestellung steht im Mittelpunkt des Projektes von Dr. Nicole Reifarth, das seit letztem Jahr von der Gerda Henkel Stiftung gefördert wird und sich dem Grab des Bischofs Paulinus widmet. Im Interview haben wir mit der Restaurierungswissenschaftlerin Dr. Nicole Reifarth gesprochen.