Bei L.I.S.A. gab es vor nunmehr drei Jahren in den Kommentaren zum Beitrag Wissenschaftsgläubigkeit oder postmoderner Relativismus? einen kurzen Disput zwischen dem Autor M.A. Rimtautas Dapschauskas und Dr. André Karliczek, der den Beitrag kommentiert hat. Diesen Austausch nehme ich zum Anlass für einen Offenen Brief an beide Diskutanten.
Offener Brief | Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis
Offener Brief
Lieber Herr Dapschauskas, lieber Herr Karliczek,
das, was alle Wissenschaffenden wissen wollen, geht vielleicht aus der nachfolgenden Fragestellung etwas deutlicher hervor: Was macht Wissenschaft eigentlich aus? Wodurch unterscheiden sich "Wissenswahrheiten" von Glaubenswahrheiten?
Die entscheidende Einsicht, die der Mensch sucht, wahrscheinlich schon seit er gemerkt hat, dass er nachdenken kann, hat sich in den Jahrmillionen vor uns und auch in den letzten Jahrtausenden intensiveren Nachdenkens wohl noch nicht eingestellt. Wir mussten aber auch nicht ernsthaft darüber nachdenken, weil dies für uns nicht überlebensnotwendig ist. Denn wir sind schon als "Weltmeister des Wissenschaffens" auf die Welt gekommen. Die Evolution hat uns diese Fähigkeit in die Wiege gelegt. Anders hätten wir auch gar nicht überleben können.
Aller Fortschritt im Erkennen beruht auf Fleiß und einer "zündenden Idee", die man sich aber auch erarbeiten muss. Auf die zündende Idee, an die ich denke, wird jeder selber kommen, wenn er sich dem Problem stellen würde. Denn die gesuchte Erkenntnis ist selbstverständlich. So selbstverständlich, dass keiner es für notwendig hält, sich mit der problemlösenden Antwort zu befassen, wenn diese Antwort vor ihm liegt.
Die alles entscheidende Einsicht stellt sich auch deshalb nicht ein, weil wir wir alle gemeinsam - stillschweigend und unbewusst - ein Voraus akzeptiert haben, das uns allen vernünftig erscheint. Und weil es allen selbstverständlich und vernünftig erscheint, wird es von allen gewollt und auch nicht mehr hinterfragt. Wer sich darüber hinwegsetzt und trotzdem darüber nachdenkt, wird als Esoteriker eingestuft. Und hat dann keine Chance mehr, gehört zu werden. Was denen "zugute kommt", die gar nicht wollen, das sich etwas ändert.
Das von allen akzeptierte Voraus: "Wissenschaft ist 'objektiv', 'neutral' und der 'Wahrheit' verpflichtet." Und allein durch dieses VORAUS ist uns der Weg zu den Grundlagen des Wissenschaffens versperrt. Wenn man diesen Weg trotzdem geht, trifft man auf weitere Gegebenheiten des Werdens, die für die Freiheit unseres Nachdenkens eine Hürde darstellen, die aber für das Werden existenznotwendig sind. Würden wir die Hürde als Hürde erkennen, könnten wir sie überwinden.
Weil wir diesen Weg nicht eingeschlagen haben, haben wir uns selbst davon abgehalten, die Grundmauern unseres Wissenschaffens auf ein solides Fundament zu stellen. Weil die alles entscheidende Einsicht so einfach und so selbstverständlich ist, erscheint es sinnvoll, erst einmal einen "Bedarf zu erzeugen": Probleme, für die man eine Antwort suchen will.
Die Ausführungen von Rimtautas Dapschauskas zeigen mehrere "offene" Probleme auf:
- Wie will man auf die Forderung nach "Beliebigkeit" antworten?
- Wann ist eine Denktradition gültig bzw. gleichermaßen gültig?
- Am Ende sucht sich jeder ein uns passendes Narrativum aus: nach "Belieben". Was man dann für wahr halten kann oder auch nicht.
Lieber Herr Rimtautas Dapschauskas. Sie beantworten diese Fragen mit Willenserklärungen, denen jeder zustimmen wird, der ernsthaft Wissenschaftlichkeit anstrebt. Aber:
- Wie kann man - wissenschaftlich gesichert - feststellen, was als "wissenschaftlich gesichert" bezeichnet werden kann?
- Wie kann man - wissenschaftlich gesichert - feststellen, was als objektiv - oder - neutral - oder - wahr bezeichnet werden kann?
- Wie kann man - wissenschaftlich gesichert - eine Frage vom Typ: "Was-ist-ein-'xyz'?" beantworten?
Die Ausführungen von André Karliczek machen eins sehr deutlich: Die Methoden des Schaffens und Überprüfens von Wissen müssen dem Betrachtungsbereich angemessen sein. Aber die alles entscheidende Einsicht, wie man diese Methoden
schaffen kann, wird auch von André Karliczek nicht aufgezeigt. Und auch in der Antwort von Rimtautas Dapschauskas hierauf zeigt, dass es ein wissenswissenschaftliches "missing link" gibt:
- Kann man auf der Basis empirischer Belege - logisch - argumentieren?
- Ist das dem Betrachtungsobjekt angemessen?
- Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um ein Denken als "wissenschaftliches Denken" bezeichnen zu können? Denn nur wenn wir hierfür "empirische" Kriterien nennen können, können wir auch feststellen, wann wissenschaftliches Denken angefangen hat.
Zum Nachdenken: Wenn wir diese Kriterien nicht nennen können, müssten wir dann nicht unserem Denken die Wissenschaftlichkeit absprechen?
Lieber Herr Dapschauskas, lieber Herr Karliczek, wir könnten beginnen, die Fundamente wissenschaftlicher Erkenntnis zu gießen. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, dass die Wissenschaftstheorie zuhört. Dieser Disput wäre dann so etwas wie das Ausschachten des Fundamentgrabens. Gern stelle ich Ihnen und allen L.I.S.A.-Lesern die Ergebnisse vor.
Um einen Anfang zu machen: Alles ist Geschehen. Geschehen hat zwei Gegebenheiten, die für uns von Bedeutung sind: Das Sichverändern und das Sichverbinden. Das Sichverändern verläuft nach Regelmäßigkeiten, die wir als Gesetze der Natur bezeichnen. Das Sichverbinden unterliegt keinen Gesetzmäßigkeiten. Es erfolgt beliebig. Es ist diese Beliebigkeit, die die Evolution ermöglicht hat und dem Menschen Sinnbestimmung, Entscheidungsfreiheit und Vernunft.
Beliebigkeit ist die Voraussetzung für unsere Kreativität, die uns nicht nur erlaubt, Vermutungen aufzustellen, den Umgang mit einander zu regeln und neue Welten zu schaffen, sondern auch Nonsense und Leeres Stroh zu produzieren: Wir müssen Beliebigkeit nicht "ertragen", wie "postmodern" gefordert wird. Wir müssen auch nicht die "Flucht aus der Beliebigkeit" (Josef Mitterer) antreten, wie die Philosophie meint.
Beliebigkeit ist die "condition sine qua non", ohne die es kein Werden gegeben hätte und ohne die Kreativität nicht möglich wäre. Wir müssen lernen mit der Beliebigkeit umzugehen. Zwei handfeste, praktische Beispiele sollen dies zeigen:
- Im Wissenschaffen vom Wissenschaffen: Einen Begriff bilden, eine Frage vom Typ "Was-ist-ein-'xyz'?" beantworten, kann man nur, wenn man einen Sinn, eine Funktion, ein WOZU setzt/bestimmt.
- Im Alltag: Bei jeder Frage, die uns jemand stellt, müssen wir wissen, WOZU er diese Frage stellt, welche Funktion unsere Antwort haben soll: Noch konkreter: Bei einer Befragung durch die Kriminalpolizei müssen wir die Beliebigkeit der Auslegung unserer Antwort ausschließen: "Die-Fragen-stelle-ich" war gestern.
Hans-Josef Heck, Remscheid
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