Während des Nationalsozialismus zeigten einige Menschen große Hilfsbereitschaft gegenüber verfolgten Juden. Unter ständigem Risiko, selbst enttarnt und der Mithilfe beschuldigt zu werden, boten sie Verfolgten im Geheimen Unterschlupf, Nahrung und sonstige Hilfe. Wie genau bildeten sich diese verdeckten Netzwerke aus? Wie entstand der Kontakt zwischen Verfolgten und Helfern? Was war der Anreiz, sich für andere selbst in Gefahr zu bingen? Wie bildete sich Vertrauen zwischen den Beteiligten? Diesen Fragen geht Dr. Marten Düring, Mitarbeiter am Centre Virtuel de la Connaissance sur l’Europe (CVCE) in Luxemburg, in seiner Studie nach. Hierin unternimmt er eine historische Netzwerkanalyse an sechs Fallbeispielen verdeckter Helfernetzwerke in Berlin. Die aus Interviews und anderen Quellen gewonnen Daten hat er digital ausgewertet und so auch methodisch neue Ansätze verfolgt. Seine Studie zielt darauf ab, die einzelnen Verbindungen der geheimen Helfernetzwerke sichtbar zu machen.
"Das Buzzword 'Netzwerk' hilft dabei, Interesse zu wecken"
L.I.S.A.: Herr Dr. Düring, Sie beschäftigen sich mit Netzwerken, genauer gesagt mit historischen Netzwerken und deren Analyse. Nun ist der Begriff des Netzwerks heutzutage omnipräsent, vergleichbar mit dem Begriff des Diskurses, wie Wolfgang Reinhardt kritisiert hat. Ist heute alles irgendwie Netzwerk?
Dr. Düring: Angesichts der zunehmend inflationären Nutzung des Begriffs fehlt mir oft die tiefere Reflektion des Wirkens der beschriebenen sozialen Strukturen, die der Netzwerkbegriff ja beinhaltet. Manuel Castells und andere haben mit Blick auf die Gegenwart den Begriff der Netzwerkgesellschaft geprägt, um veränderte soziale und technische Interaktionsmuster zu beschreiben - in diesem Kontext macht es schon Sinn, überall Netzwerke zu sehen. Die generelle Idee, dass soziale Strukturen menschliches Verhalten beeinflussen ist allerdings absolut nicht neu, alltagssprachliche Metaphern wie „eingebunden sein“ oder „Filz“ deuten das schon an. Von Sebastian Gießmann gibt es übrigens sehr spannende Arbeiten über die Geschichte des Netzwerkbegriffs.
Meine KollegInnen und ich beschäftigen uns mit Sozialer Netzwerkanalyse, die einen reichen Theorie- und Methodenbaukasten für die systematische Analyse von sozialen Beziehungen zur Verfügung stellt. Dieser Ansatz lässt sich leicht mit der geschichtswissenschaftlichen Analyse von sozialen Beziehungen kombinieren, etwa in Form von Gruppenbiographien, Prosopographien oder Verwandtschaftsnetzwerken. Seit einigen Jahren steigt das Interesse in den historischen Wissenschaften stark an: Daten sind heute leichter verfügbar, Software-Programme sind mittlerweile leicht bedienbar und natürlich helfen das Buzzword „Netzwerk“ und ansprechende Visualisierungen dabei, das Interesse zu wecken. Meine KollegInnen und ich versuchen, alle Aktivitäten und Materialien auf http://historicalnetworkresearch.org zu sammeln.