L.I.S.A.: Sie sprechen sich in Ihrer Arbeit für den Begriff der „Epochenverschleppung“ aus, den Sie als Mittlerbegriff zwischen den Hauptnarrativen „Restauration“ und „Modernisierung“ verankern. Was meint dieses Periodisierungskonzept, das an Ernst Blochs „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ erinnert, genau? Was bedeutet „Verschleppung“ in diesem Zusammenhang?
Dr. Escher: Neue Begriffe einzuführen und stark zu machen ist immer so eine Sache. Der Terminus Epochenverschleppung hat bislang in der Geschichtswissenschaft ja gar keine Verwendung gefunden. Er existiert überhaupt nur innerhalb der Philologie und dort ist er obendrein im heiteren Fach zuhause. Der Begriff Epochenverschleppung wird einzig als Leitmotiv des Bonvivants und Schriftstellers Gregor von Rezzori benutzt, der als Sohn der Bukowina in zahlreichen seiner Romane die scheinbar kommode K.u.K.-Epoche in die Gegenwart imaginierte, in "Viva Maria" auch im Italo-Western an der Seite von Brigitte Bardot spielte. Von ihm stammt auch folgende bündige Definition: „Ich habe einmal ein Wort geprägt, das allmählich Aufnahme in den allgemeinen Sprachgebrauch findet: Epochenverschleppung. Damit ist gemeint das anachronistische Überlappen von Wirklichkeitselementen, die spezifisch einer vergangenen Epoche angehören, in die darauffolgende. Nicht alle Erscheinungen haben das gleiche Trägheitsmoment. Manche bestehen über sich selbst hinaus. Sie erweisen sich damit als Stimmungsträger, die nicht nur einzelne, sondern beinah alle über die tatsächlich bestehende Wirklichkeit täuschen. Das Gegenwartserlebnis läuft nebenher. Keiner lebt gänzlich im Jetzt und Hier.“ Rezzori hat seinen Bloch wohl gelesen und meisterhaft rezipiert.
Um sich dem Phänomen der Epochenverschleppung nähern zu können, bedarf es, von der üblichen Unterteilung des Jahrhunderts Abstand zu nehmen. Die Verknüpfung deutscher Zeitgeschichte nach der Zäsur 1945 mit früheren Epochen war lange Zeit mit einer gewissen Scheu belegt, der jüngst verstorbene Hans-Peter Schwarz schrieb noch 1996 von einem Desiderat. Davon kann inzwischen angesichts der Opera magna von Heinrich August Winkler, Hans-Ulrich Wehler und Ulrich Herbert nicht mehr die Rede sein. Was wichtig ist: Die Epochenverschleppung der Bundesbürger führte langfristig nicht zu einem Fremdeln mit der Bundesrepublik, sondern zu einem Verschmelzen des Neuen mit dem Dagewesenen. Ein Land lebt auch von dem, was es nicht mehr ist oder nicht mehr zu sein scheint. Dabei lassen sich die Widersprüche vom Alten und Neuen nach 1945 nicht immer zwingend kausal auflösen. Die stumpfe Suche nach Altem und Neuem kann sogar irreführend sein, dort wo vieles gleichzeitig einhergeht und aus Altem Neues geschmiedet wird.
Genau hier liegt auch der Mehrwert des Begriffes Epochenverschleppung gegenüber dem Restaurationsparadigma. Die Epochenverschleppung bezieht sich nicht auf eine bestimmte Zeitepoche, die eben restauriert wird oder werden soll, sondern betont das Träumerische, das Ungefähre dieser Wunschvorstellung. Das deutsche Arkadien hat nun einmal keinen konkreten Ort, es liegt im Irgendwo und Nirgendwo und besteht aus vielen Sehnsuchtslandschaften, wie im Übrigen schon das Deutschlandlied ein sehnsüchtiges Lied war. Viel stärker wird durch die Begrifflichkeit Epochenverschleppung die dispositive Seite des ganzen psychosozialen Phänomens wahrgenommen – die Analysekategorie Restauration legt dagegen ihr Augenmerk weitgehend auf das schiere Amtshandeln.
Doch auch jenseits der Fakultäten liegen Aktiva der Nutzung des Begriffs Epochenverschleppung auf der Hand: Während Restauration ein statischer Terminus ist, handelt es sich bei der Epochenverschleppung um eine anthropologische Grundkonstante von großer Kraft. Nur auf den ersten Blick ist die Epochenverschleppung nämlich harmloser Natur. Bereits Gregor von Rezzori warnte: „Die Kunst – so sie nicht der Gegenwart vorausgeht – ist ein gefährlicher Helfer der Epochenverschleppung." Gefährlich wird die Epochenverschleppung durch den Umstand, dass ihr Gegenspieler nicht die Zukunft ist, sondern die als betrüblich empfundene Gegenwart. Vergangenes wird mit so vielen Ich-Anteilen aufgeladen – euphemistisch gesprochen wohlbehütet –, dass im Ergebnis jede Veränderung als persönliche Zumutung wahrgenommen wird. Der Wutbürger, ob Stuttgarter oder Dresdner Provenienz, leidet auch an einer Epochenverschleppung. Er sehnt sich nach einem Deutschland was es so, zumindest nach 1945, niemals gegeben hat. Der Takt der Gegenwart ist ihm unerträglich. Als Terminus ist die Epochenverschleppung keinesfalls ein biederer Kompromiss zwischen Modernisierungs- und Restaurationsthese, vielmehr sollte sie als eine eigenständige These wider der verbreiteten Vorstellung eines linearen Verlaufs der Geschichte verstanden werden.
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* FAZ (R. Blasius am 16.5.17, S.8.); http://www.faz.net/-gqc-8xv8i?GEPC=s3
* SZ (S. Speicher am 24.8.17, S. 14.); http://sz.de/1.3637338 (mit paywall)
* der FREITAG (E. Schütz als Sammelrezension am 27.7.17, S. 23.); https://t.co/6WasuwVRG4
Weitere digitale Besprechungen zum Buch, freilich nicht von Herrn Jan-Holger Kirsch betreut, finden sich hier:
* Axel Bernd Kunze: https://t.co/oQWM0Mz3jB
* Katholische Nachrichten-Agentur über: https://www.domradio.de/node/245864
* Welt: https://t.co/Jib8ZNBvLL
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