Wer an den Begriff "Kapitalismus" denkt, dem oder der kommen dabei wahrscheinlich zig Dinge in den Sinn. Für die einen ist Kapitalismus vor allem ein historischer Begriff, der eine gesellschaftliche Formation und Wirtschaftsordnung meint, für andere beschreibt er eine ökonomische oder sogar nur eine unternehmerische Praxis und wieder für andere einen Lebensstil, der beispielsweise eng an Konsum gebunden ist. Zudem sind Vorstellungen vom Kapitalismus nicht zuletzt normativ aufgeladen - entweder ist er gut oder böse, ein Raubtier, das gebändigt werden muss. Gerade politische Überzeugungen und Strömungen haben sich in der Moderne an dieser Dichotomie ausgebildet. Der Band "Moderner Kapitalismus", herausgegeben von Prof. Dr. Christian Kleinschmidt, PD Dr. Roman Köster, PD Dr. Tim Schanetzky und Prof. Dr. Jan-Otmar Hesse, widmet sich aus unterschiedlichen Perspektiven diesem vielfältigen Kapitalismus-Verständnis. Wir haben Professor Hesse dazu unsere Fragen gestellt.
"Der Kapitalismusbegriff hat in den letzten Jahren eine grundlegende Neuausrichtung erfahren"
L.I.S.A.: Herr Professor Hesse, gemeinsam mit Christian Kleinschmidt, Roman Köster und Tim Schanetzky haben Sie anlässlich des 65. Geburtstags des Wirtschaftshistorikers Prof. Dr. Werner Plumpe den Sammelband "Moderner Kapitalismus" herausgegeben. Der Titel ist zwar kurz, fordert aber trotzdem zu einer ersten Frage heraus: Warum "moderner" Kapitalismus? Was meint "modern" in diesem Zusammenhang und was wäre der "vormoderne Kapitalismus"?
Prof. Hesse: Der Titel bezieht sich auf den gleichnahmigen Titel eines Klassikers der Kapitalismusforscher, Werner Sombarts sechsbändiges Opus Magnum der 1920er Jahre. Tatsächlich wird da von kapitalistischen Wirtschaftsformen ausgegangen, die vor der "Industriellen Revolution" in Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachten sind. Sombart nennt sie aber nicht "vormodern", sondern "Kaufmannskapitalismus" oder "Handelskapitalismus". Im Unterschied zum "Industriekapitalismus" oder "Hochkapitalismus" fehlt diesen Vorformen nach Sombart aber eine allgemeine kapitalistische Mentalität, die das Handeln aller seitdem bestimmte. Für uns kam bei der Wahl des Titels aber noch ein anderer Aspekt hinzu: Der Kapitalismusbegriff hat in den letzten Jahren eine grundlegende Neuausrichtung gegenüber diesen älteren Texten von Sombart usw. erfahren, so dass wir den Titel doppeldeutig benutzen. Als Referenz an Sombart und als Zeichen, dass eine neue Debatte entstanden ist, die Werner Plumpe ganz maßgeblich mitprägt.