L.I.S.A.: An mehreren Stellen erwähnen Sie auch den Begriff der punitiven Gesellschaft als ein Merkmal westlichen Denkens, sprich: das westliche Rechtssystem ist primär auf Strafe aus, es will die Schuldigen ausfindig machen und bestrafen. Ein Gerichtsverfahren vor Ort, auch wenn es die Schuldigen bestraft, so sagen Sie, hilft den Geschädigten jedoch oftmals nicht, sondern verstärke v.a. im Falle von Vergewaltigungen nur die bereits vorhandene Stigmatisierung durch die Gesellschaft. Denn für viele Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, hat dies oftmals soziale Ächtung und die Verstoßung aus der eigenen Gemeinschaft zur Folge. Die Teilnahme an einem Gerichtsverfahren vor Ort erhöhe diese Stigmatisierung nur noch und sei von den Frauen teilweise mit dem „sozialen Tod“ zu bezahlen. Mobile Gerichte, so folgern Sie, schaden den Geschädigten eher, als ihnen zu nutzen, nicht zuletzt auch aufgrund des unzureichenden Zeugenschutzes und des in der Realität oftmals nicht ausgezahlten Schadensersatzes. Halten Sie ein auf Bestrafung ausgelegtes Verfahren daher für die falsche Herangehensweise, wenn es um Verbrechen im Kongo geht? Wenn ja, was wäre die Alternative dazu? Welche stärker an den Gegebenheiten vor Ort orientierte Vorgehensweise könnten Sie sich vorstellen, die den Geschädigten mehr helfen würde?
Dr. Patrick Hönig: Zunächst mal ist es, glaube ich, Wesensmerkmal einer jeden Strafgerichtsbarkeit, diejenigen zu bestrafen, die man einer Straftat überführt zu haben glaubt. Worüber die Meinungen auseinandergehen, ist der Zweck der Strafe. Die einen sagen, Strafe sei dazu da, gesellschaftliche Normen zu stabilisieren und potenzielle Straftäter abzuschrecken. Andere sind der Ansicht, dass Strafe einen Beitrag zur Resozialisierung des Täters leisten könne. Ein Charakteristikum der punitiven Gesellschaft ist die Abkehr von klassischen Strafzwecklehren. Man hat abgeschlossen mit dem Gedanken der Resozialisierung, man denkt in Kategorien von Gefahrenabwehr und Risikovermeidung. Einfach gesagt soll Strafe dazu dienen, Täter wegzusperren, damit sie keine Straftaten mehr begehen können. Zahlreiche Wissenschaftler*innen vertreten die Auffassung, dass punitive Tendenzen im Aufwind sind, in den USA, in Großbritannien, aber auch in Kontinentaleuropa. Das würde erklären, warum internationale Organisationen, ob sie nun ihren Sitz in New York, London oder Brüssel haben, mobile Gerichte im Kongo unterstützen, obwohl man, wie ich zu zeigen versuche, nicht die Erwartung haben sollte, dass ein Täter durch die Verbringung in eine kongolesische Justizvollzugsanstalt resozialisiert wird. Gefängnisse im Kongo sind ein Ort existenzieller Not und brutaler Gewalt. Wenn man sich vor Augen führt, dass mobile Gerichte oft lange, manchmal auch lebenslange Freiheitsstrafen verhängen, darf man schon überrascht sein, wie wenig sich die Verfechter mobiler Gerichte für die Zustände in kongolesischen Haftanstalten interessieren.
Kommen wir zu den Geschädigten. Für sie bedeutet die Teilnahme an einem Strafverfahren eine enorme Belastung, zumal wenn sie als Zeug*innen geladen werden. Für die Opfer sexueller Gewalt gilt dies besonders. Sie müssen intime Details preisgeben und ständig Angst haben, dass sie erkannt und zum Dorfgesprächsthema werden, mit entsprechenden Folgen. Auch wenn die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen ist, bleibt die Angst, denn die Zeugin muss ja zum Gericht hin und vom Gericht wieder weg. Insofern droht den Geschädigten durch die Teilnahme am Strafverfahren Stigmatisierung, allerdings nicht mehr oder weniger, als wenn sie etwa im Rahmen einer medizinischen Behandlung als Opfer sexueller Gewalt sichtbar gemacht würden. Meine These ist also nicht, dass sich durch das Strafverfahren die Stigmatisierung erhöht, sondern das Risiko, erkannt zu werden, was dann zu Stigmatisierung führt. Wenn diesem Risiko nicht die Chance gegenübersteht, dass man in seiner Verletztheit gesehen wird, stellt sich die Frage, was die Geschädigten von den mobilen Gerichten haben. Im Urteil des Minova-Verfahrens, das ich eben angesprochen habe, werden die Offiziere für ihre Kooperationsbereitschaft vom Gericht gelobt. Das Leid der Geschädigten bleibt unerwähnt.
Im Übrigen ist uns, glaube ich, beiden klar, dass die Frage nach Alternativen hier nicht erschöpfend beantwortet werden kann. Deshalb nur so viel: Ich sage im Buch ausdrücklich, dass man im Kampf gegen sexuelle Gewalt auf das Strafrecht nicht verzichten kann. Ganz generell muss man sich ja die Frage stellen, wie ein wertebasiertes Zusammenleben möglich sein soll, ohne dass bestimmtes Verhalten sanktionsbewehrt ist. Aber im Kongo wie anderswo lohnt es sich nachzuhaken: Um welche Werte geht es, um welches Verhalten, um welche Sanktionen und in welchem Zusammenhang steht das eine mit dem anderen?