Fünf Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wollten verstehen, warum Orte aufgegeben wurden, welche Bedeutung sie heute haben und was Neues daraus erwachsen kann.
Fünf Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wollten verstehen, warum Orte aufgegeben wurden, welche Bedeutung sie heute haben und was Neues daraus erwachsen kann.
Das Sultanat Oman im Südosten der Arabischen Halbinsel ist berühmt für seine Oasen mit traditioneller Architektur. Bis in die 1970er Jahre hinein wohnte der Großteil der Bevölkerung des Landes in Häusern aus Lehm. Heute jedoch sind diese Lehmziegelhäuser größtenteils nicht mehr bewohnt; die Menschen leben nun in Häusern aus Beton und Zement. Was bleibt also, wenn Menschen ihr zu Hause verlassen? Dieser Frage sind Archäologinnen, Soziolog:innen und Islamwissenschaftlerinnen der Universitäten Frankfurt, Leipzig und Bochum in einem von der Gerda Henkel Stiftung finanzierten Forschungsprojekt in den letzten drei Jahren nachgegangen. Sie wollten herausfinden,
wann und warum bestimmte Orte in Oman aufgegeben wurden, welche Bedeutung die aufgelassenen Siedlungen noch heute für die Menschen in der Region haben und vor allem, was Neues aus den Ruinen der verlassenen Häuser entstehen kann. Diese Ausstellung führt auf eine Zeitreise durch verschiedene Orte in Oman von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft.
Die Erforschung der verlassenen Lehmziegelsiedlungen in Oman ist sehr komplex. Daher waren unterschiedliche Blickwinkel notwendig, um ein möglichst vollständiges Bild zu erhalten. Das Forschungsteam setzt sich aus Archäologinnen, Soziolog:innen und Islamwissenschaftlerinnen zusammen. Sie wenden unterschiedliche Methoden an, um mehr über die Lehmziegelsiedlungen zu erfahren. Archäolog:innen beschäftigen sich mit den materiellen Hinterlassenschaften, also den Gebäuden und den Gegenständen, die darin gefunden werden, wie beispielsweise Keramikscherben. Soziolog:innen interessieren sich für das Zusammenleben von Menschen. In diesem Projekt analysierten sie dazu unter anderem, welche Rolle die Lehmziegelsiedlungen in Zeitungsartikeln und Social Media spielen. Islamwissenschaftler:innen untersuchen vom Islam geprägte Gesellschaften in der Vergangenheit und Gegenwart, beispielsweise anhand von Schriftquellen, Augenzeugenberichten und Fotoaufnahmen, die vor und nach dem Verlassen der Lehmziegelsiedlungen entstanden sind.
Größere Oasensiedlungen hatten meist zwei oder mehr Wohnviertel. Diese wurden von einer einzigen oder von mehreren Stammesgruppen bewohnt. Die Nutzung des in sich geschlossenen Wohnviertels war seinen Bewohner:innen vorbehalten, die in entsprechend engem Kontakt miteinander lebten. Die meisten Wohnviertel zeichnen sich durch ihre kompakte Bebauung aus. Die Häuser stehen Wand an Wand, und das dichte Gefüge der Bauten wird lediglich von einem Geflecht enger schattiger Gassen durchbrochen. Um das sich daraus ergebende enge Miteinanderleben produktiv und konfliktfrei zu gestalten, bedurfte es eines regen sozialen Austauschs. Täglich trafen sich die männlichen Bewohner eines Viertels in ihrem Versammlungsraum, um dort, bei Kaffee und Datteln, Neuigkeiten auszutauschen und anstehende Fragen zu erörtern. Die örtlichen Vertreter der einzelnen Stammesgruppen halfen bei der Regelung eventueller Interessenskonflikte. Enge Kooperation aller Beteiligten, unter der Aufsicht eines lokalen Managers, war auch ausschlaggebend für das Funktionieren des traditionellen Falaj-Bewässerungssystems.
Zum Leben in den traditionellen Wohnvierteln gehörten Arbeiten in den Oasengärten, die sich Männer und Frauen teilten. Die Herstellung von luftgetrockneten Lehmziegeln und das Brennen des traditionellen Mörtels waren Aufgabe der Männer. Frauen kümmerten sich um die tägliche Trinkwasserbeschaffung vom Falaj oder Brunnen und waren zuständig für Nahrungsmittelbevorratung und -zubereitung, die im Erdgeschoss des Hauses untergebrachte Milchkuh sowie sonstige Hausarbeiten. Viele Arbeiten unternahm man gemeinsam mit anderen. Davon zeugen auch heute noch viele Relikte: etwa im Schatten überdachter Gassen in den Boden eingetiefte Ausbuchtungen oder hölzerne Mörser zum Zerstoßen von Gewürzen, Getreidekörnern und Hülsenfrüchten. Es gibt kommunale Handgetreidemühlen, die aus zwei Basaltscheiben bestehen. Patinierte Ausbuchtungen in Felsplatten erzählen vom Auspressen ölhaltiger Früchte eines Meerrettichbaumes zur Gewinnung von Heilöl. Während sich das soziale Leben der Männer vorwiegend im Versammlungsraum, in der Moschee und auf dem Markt abspielte, widmeten sich die Frauen der Pflege verwandt- und nachbarschaftlicher Beziehungen durch gegenseitige Besuche.
Das Mobiliar beschränkte sich im Wesentlichen auf große, oft reich verzierte Holztruhen, in denen man die Kleidung zusammengelegt aufbewahrte. In Gebrauch befindliche Kleidung und Waffen hing man an in die Wände eingelassene Holzpflöcke. In den Wandnischen befanden sich Bücher, Porzellanschälchen und andere wertvolle Dinge. Große Vorratskrüge für Datteln und Getreide wurden in Vorratsräumen des Erdgeschosses aufbewahrt. Auf dem Boden, nahe der hufeisenförmigen Kochstelle aus Lehm oder in den Wandnischen der Küche standen Kochtöpfe aus Kupfer oder Keramik. Bauchige Wasserkrüge aus unglasiertem, porösen Ton hing man ins offene Fenster, um die Verdunstungskühle zu verstärken. Matratzen für die Nacht wurden tagsüber gestapelt und am Abend, je nach Jahreszeit, im wärmeren, da praktisch fensterlosen Unterschoss des Hauses, im belüfteten Obergeschoss oder aber auf dem Dach ausgelegt. Fester Bestandteil des Inventars waren auch aus Palmblättern geflochtene Säcke, Körbe und Matten.
Wo nicht topografische Lage oder geographische Abgeschiedenheit als passive, natürliche Befestigung fungieren, haben die Bewohner:innen selbst ihre Wohnquartiere als wehrhafte Einheiten gestaltet. Wichtigste Befestigungselemente waren die Stadtmauer und Türme, die in die Mauer oder in Häuser integriert waren oder auf Anhöhen innerhalb oder außerhalb der Siedlung standen. Die Stadtmauer bestand häufig aus aneinanderstoßenden, geschlossenen Rückseiten von Wohnhäusern. Der Zugang zum Wohnquartier war durch befestigte, nachts verschlossene und häufig bemannte Stadttore gesichert. Moscheen als öffentliche Gebäude, die auch von Ortsfremden besucht werden konnten, lagen meist in unmittelbarer Nähe zum Stadttor. Schwere Holztore, oft mit Eisenspitzen versehen, erschwerten das Rammen eines Tores. Über dem Tor befand sich oft ein Raum, von dem aus man alle Ankommenden gut beobachten konnte. Darüber hinaus konnten Angreifer von über dem Tor angebrachten Maueröffnungen mit kochendem Dattelsirup oder Wasser am Eindringen gehindert werden. Schießscharten und Zinnen vervollständigten das Befestigungssystem.
Seit der Machtübernahme Sultan Qaboos’ gab es vielfältige Bestrebungen, Lehmziegelhäuser zu modernisieren. So versuchte man, moderne Annehmlichkeiten auch in den traditionellen Häusern zu verwirklichen. Dazu gehörten insbesondre Elektrizität und fließendes Wasser. Obwohl diese Modernisierungsmaßnahmen dafür sorgten, dass manche Häuser länger genutzt wurden, ergaben sich dadurch auch neue Probleme. Beton und Zement ließen sich sprichwörtlich nur schwer mit der Lehmziegelarchitektur verbinden. Beton ist oft zu schwer für die Lehmziegelmauern, sodass diese zusammenbrechen und Zementputz bröckelt leicht von den Lehmziegelmauern ab. So führte die Verwendung dieser modernen Materialien dazu, dass die Häuser noch schneller verfielen. Besucht man heute eine verlassene Lehmziegelsiedlung, sieht man häufig Stromkabel und Wasserleitungen aus Plastik. Das führt einem vor Augen, dass die Häuser bis vor wenigen Jahrzehnten noch bewohnt waren.
Im 19. und 20. Jahrhundert verließen viele Bewohner:innen die alten Siedlungen. Deshalb haben wir es in Oman mit einer vergleichsweise hohen Zahl von Ruinen zu tun: mit Häusern und Siedlungen, die ihren ursprünglichen Zweck verloren haben, und heute weitestgehend verlassen sind. Ihr vergleichsweise junges Alter wird durch den archaisch anmutenden Baustoff Lehm verzerrt – sie wirken wie aus der Zeit gefallen. Noch gibt es aktive Erinnerungen an ihr intaktes Dasein, doch die Gebäude verfallen zusehends. Da es über 1000 dieser verlassenen Siedlungen gibt, ist der Anblick von Ruinen im Oman jedoch keine Besonderheit. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass die Häuser aber auch wieder auf andere Weise, als ursprünglich gedacht, genutzt werden: die pittoresken Ruinen dienen zum Beispiel als beliebtes Fotomotiv. Einheimische erinnern sich beim Anblick vielleicht an das Leben ihrer Vorfahren. Für die immer größer werdende Anzahl von Tourist:innen, die das Land bereisen, sind sie hingegen ästhetisch schöne Bildmotive. Stimmungsvoll werden die Ruinen auf den Fotos in Szene gesetzt.
Während sich die Infrastruktur und der Städtebau in Oman in den vergangenen Jahrzehnten rasant entwickelt haben, wirken die verlassenen Lehmhäuser wie aus einer anderen Zeit. Vielerorts sind sie verfallen und lassen ihre ursprüngliche Erscheinung nur noch vage erahnen. Wind und Wetter preisgegeben, verwandeln sich die Lehmziegel wieder schrittweise in Erde. Doch auch andere natürliche Einflüsse sorgen dafür, dass sich die Umgebung der Siedlungen verändert: Pflanzen gedeihen in den ungenutzten Häusern, Bäume wachsen durch die Dächer und bieten Brutstätten für Vögel. Regelrechte Dornröschenschlösser erwachsen Stück für Stück und erzeugen ein friedliches, aber auch ein apokalyptisches Bild. Werden diese Häuser jemals wieder zum Leben erweckt und aktiv genutzt? Oder werden Wind und Regen die Häuser in ein paar Jahrzehnten gänzlich zum Verschwinden gebracht haben? Verfallende Gebäude können uns an den Lauf der Geschichte erinnern und zeigen, dass auch Gebautes einem stetigen Wandel unterliegt.
In einem ersten Schritt begannen die omanischen Behörden mit der systematischen Erfassung der traditionellen Wohnquartiere und einer Klassifizierung ihres Erhaltungszustands. Anschließend erfolgte die ausführliche Dokumentation mehrerer vom Verfall bedrohter Wohnquartiere. Im Zuge dieser Bemühungen wurden bis 2018 50 Gebäude des Wohnviertel Harat Al Bilad in Manah restauriert. Auf Manah folgte die Restaurierung weiterer Wohnquartiere durch die omanischen Behörden, beispielsweise Harat Al Jami in Adam und Al Sulayf in Ibri. In allen Fällen ging man nach dem Top-down-Prinzip vor, wobei der Staat die Eigentumsrechte an den Gebäuden von ihren Vorbesitzer:innen, den vormaligen Bewohner:innen oder deren Nachfahren erwarb. Diese hatten somit keinen Einfluss auf die Restaurierung und wurden zu reinen Zuschauer:innen. Diesen staatlichen Projekten sind keine Managementpläne vorausgegangen. Die Nutzung der Quartiere ist als Besucherdestination für den internationalen und den Inlandstourismus vorgesehen, und die Entwicklung und der Betrieb von entsprechenden Besuchereinrichtungen soll an private Betreiberfirmen vergeben werden. Dies wurde aber bislang noch nicht umgesetzt. So bleiben die Quartiere hinter hohen Mauern verschlossen und eine Besichtigung ist nur nach vorheriger Absprache möglich. Weitere staatliche Restaurierungen von Wohnquartieren sind derzeit nicht vorgesehen, die Behörden ermutigen jetzt vielmehr lokale Privatinitiativen.
Gegenwärtig werden zahlreiche verlassene Wohnquartiere zum Schauplatz konzertierter kommunaler und privater Initiativen. Das steht einerseits im Zusammenhang mit dem Begreifen der alten Quartiere als materielles Gut und Kapital und drückt andererseits erstarkendes Bewusstsein und Interesse am eigenen kulturellen Erbe als Identifikationsstifter aus. Letzteres reflektieren Bürgerinitiativen, die bewusstseinsfördernde Veranstaltungen und Aktionen in den alten Quartieren durchführen und sich der Wiederinstandsetzung oder Säuberung der von Unrat und Schutt vermüllten Wege durch die Viertel, ihrer öffentlichen Gebäude und umgebenden Gartenflächen annehmen. Im alten verlassenen Quartier von Misfat Al Abriyin entstand eine einfache Herberge in einem vom Besitzer hergerichteten Wohnhaus. Es folgten staatliche Bemühungen um die Erschließung des Quartiers für den Tourismus, öffentlichprivate Partnerschaften, die Bildung einer lokalen Kooperative der Hausbesitzer sowie zahlreiche weitere Privatinitiativen. Dabei kommt es vor, dass Bauteile wie Balkone oder dekorative Elemente, die der traditionellen omanischen Architektur fremd sind, hinzugefügt werden. Die Bemühungen führten hier auch zu einer touristischen Überlastung. In anderen Orten, wie etwa Al Hamra oder Al Aqr in Nizwa, lässt sich eine strukturiertere, von örtlichen Bürgerinitiativen beziehungsweise Investmentfirmen gesteuerte Entwicklung beobachten. In jedem Fall zeigt sich, dass lokale Initiativen zu einer erfolgreichen Wiederbelebung der alten Quartiere führen können.
Siedlungen in Oman ist es schwierig, eine einzige Prognose für die künftige Entwicklung abzugeben; zu unterschiedlich sind die jeweiligen Ortskarrieren. Manche Siedlungen verfallen, andere werden wiederum teilweise renoviert und es gibt Planungen für ihre künftige Verwendung. Schon jetzt gibt es interessante Kontroversen um die touristische Nutzung der Siedlungen. Auf der einen Seite bestehen große Ausbaupläne und Ideen, die Siedlungen zu Anziehungspunkten zu machen, auf der anderen Seite verlauten Plädoyers, die eher einen zurückhaltenden und behutsamen Umgang mit den Siedlungen befürworten. Interessant sind zudem ganz aktuelle Entwicklungen in Oman, die durch die COVID- Pandemie an Fahrt aufgenommen haben. Die Unmöglichkeit des Reisens sowie die temporär eingeschränkte Bewegungsfreiheit während der Lockdowns führte, wie in anderen Ländern auch, dazu, dass die lokale Bevölkerung viele Bau- und Renovierungsarbeiten an den verlassenen Siedlungen vornahm. Gerade die jüngere Generation entdeckt die Siedlungen für unterschiedlichste Projekte: zahlreiche kleine Cafés und Hotels sind beispielsweise in den vergangenen Jahren entstanden.
Das Leben mit und die Wahrnehmung von den Lehmziegelsiedlungen in Oman hat sich im Laufe der letzten 50 Jahre gewandelt. Von der Alltagskulissen des traditionellen Lebens der Menschen bis in die 1970er Jahre hinein wandelten sie sich zu Ruinenlandschaften, die romantisch verklärt und gleichzeitig dem Verfall preisgegeben wurden. Heute gibt es verschiedene Wiederbelebungsbestrebungen durch staatliche und private Initiativen, die nicht nur touristische und wirtschaftliche Interessen verfolgen, sondern auch der emotionalen Bedeutung der Lehmziegelorte Rechnung tragen. Die „Lost Cities“ in Oman sind ein wichtiges kulturelles Erbe, das die Menschen vor Ort und Besucher:innen auf vielfältige Weise wiederentdecken und damit für zukünftige Generationen bewahren.
Dieser Beitrag ist Ergebnis einer Posterausstellung an der Universität Leipzig und der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Die Poster können hier heruntergeladen werden. Copyright: diesuperpixel.de