Groebner: Wirklich interessant finde ich die Fantasien vom Nationaltourismus: Urlaub als Vorrecht, aber jetzt bitte schön innerhalb der Grenzen. In der Schweiz gab es solche Kampagnen zuletzt 1940...
Zimmerer: Ja, und Urlaubskorridore für Deutsche ans Mittelmeer...
Meyer: Unsere Corona-Pfunde und unsere Urlaubsangst kontrastieren stark mit den Hungerproblemen, die Lateinamerika jetzt regional wegen Corona hat.
Zimmerer: Luxusprobleme.
Groebner: Ich denke, dass es aus historischer Sicht Grund zu vorsichtigem Optimismus gibt. Industriegesellschaften sind relativ fragile Systeme. Sie haben bislang ganz gut gehalten, zumindest in der BRD, Österreich und der Schweiz. Ansteckende tödliche Krankheiten gab es in den letzten 200 Jahren alle 30, 40 Jahre. Sie haben jedes Mal technische und soziale Innovationen ausgelöst - wir verdanken unsere Abwassersysteme und die Trinkwasserversorgung der Cholera und die moderne Sex- und Drogenpolitik der Erfahrung von AIDS.
Zimmerer: Was werden wir dann Covid-19 verdanken? Die moderne Überwachungsapp?
Meyer: Die Einsicht, dass unsere moderne Gesellschaft inzwischen ein Niveau der Differenziertheit erreicht hat, das uns auf einzigartige Weise für einen totalen Kollaps anfällig macht.
Groebner: Weiß ich nicht – wird nicht von der Überwachungsapp seit sechs Wochen andauernd gemeldet, dass sie jetzt gleich käme? Interessant finde ich eher, wie flott vergnügungswilligen (jungen) Leuten im Moment unmoralisches Verhalten auf Kosten der Volksgesundheit unterstellt werden kann. Offenbar ist wenig so psychisch bedrohlich wie Leute, die sich trotz Epidemie eine gute Zeit machen wollen, wenn auch nur einen Samstagabend lang. War aber in Florenz 1631 auch schon so... Könnte es sein, dass die Bildschirme die modernen Altäre sind, gemeinschaftsstiftend?
Zimmerer: Aber welche Gemeinschaft? Netflix oder Prime Video als große Glaubensfrage?
Meyer: Bei allen Problemen gilt es, die eigenen Bedürfnisse ernst und wahrzunehmen. Allerdings kommen wir gar nicht umhin, auch die Folgen für die Gemeinschaft zu bedenken.
Zimmerer: Frage mich aber, was der alleinerziehende Vater oder die alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die diese nun auch noch zur Schule/Kita fahren muss, von den Bedürfnissen nach Restaurantbesuch hält. Oder die Krankenschwester oder der Kassierer.... oder ... oder.... Die gar nicht die Gelegenheit haben, DIESE Bedürfnisse zu befriedigen.
Meyer: Nichts, höchstwahrscheinlich. Aber im Moment ist ja jede Reaktion auf die Lockerungen eine persönliche Entscheidung.
Zimmerer: Nein, eben nicht, es können nicht alle das nutzen.
Meyer: Was ich meine, ist, dass die Wahrnehmung eine unterschiedliche ist, je nach Situation: Der alleinerziehende Vater wird sicher mit Unverständnis reagieren darauf, dass Restaurantbesuche diskutiert werden. Schule/Kita wären wichtiger. Für den gebeutelten Wirt oder Menschen, die sich am Restaurantbesuch freuen, sieht die Sache anders aus. Diese verschiedenen Bedürfnisse/Perspektiven auszubalancieren oder auch nur zu tolerieren, ist schwierig.
Groebner: Ich habe die Restaurants nicht besonders vermisst, aber das Kochen für Freunde und die Einladungen bei Freunden schon. Überhaupt nicht vermisst habe ich das Fliegen und die Kurzurlaube - ich fand das eher entlastend.
Zimmerer: Entlastung durch Corona: Was hat uns denn vorher daran gehindert, uns selbst zu entlasten?
Chatzoudis: Kann man denn die gegenwärtige Situation denn nicht auch anders sehen: Man ist medizinisch inzwischen gut genug aufgestellt, um weitere Infektionen behandeln zu können, und daher kann man vorsichtig den Betrieb wieder aufnehmen, um nun auch die anderen Opfer der Coronakrise, die wirtschaftlichen und sozialen, in den Blick zu nehmen und ihnen zu helfen?
Groebner: Der atemlose Normalbetrieb vorher hat solche Auszeiten schwierig gemacht. Der war zwischendurch vorbei. Jetzt fängt er wieder an. Mir scheint, dass viele Menschen Schwierigkeiten damit haben, dass einerseits neue strikte Corona-Regeln gelten, andererseits alle weiterarbeiten sollen wie immer: ein double bind.
Zimmerer: Ja, das sehe ich auch so. Das ist das Problem, dass wir Normalität simulieren, wo keine ist, keine sein kann.
Meyer: Unbedingt. Das scheint mir auch so. Zumal für viele Menschen die Zeit extremer Belastung noch nicht vorbei ist: für die Kassiererin, die normal arbeiten muss, deren Kinder aber zu Hause alleine sind.
Zimmerer: Wir schicken Schüler einen Tag die Woche in die Schule und vermelden: Die Schulen sind offen...
Groebner: Die Rückkehr in die Vergangenheit ist eben unmöglich, auch nicht im Namen der Normalität. Aber so fühlt sich Geschichte eben aus der Nähe an: als Zumutung. Plus Stolpern nach vorne, ins Unbekannte.
Zimmerer: Geschichte als Zumutung, besser als Geschichte als Zukunft oder Offenbarung.
Chatzoudis: Ich sehe, die Zeit ist rum. Vielen Dank fürs Mitmachen!
Meyer: Danke für den interessanten Austausch!
Groebner: Danke an alle, bleiben Sie gesund und optimistisch!
Zimmerer: Herzliche Grüße und vielen Dank!