Im Zuge der Lockerungen hat sich die öffentliche Debatte über staatliche Maßnahmen, deren Befolgung und Wirkung verschärft. Zwei unversöhnliche Lager stehen sich dabei gegenüber: auf der einen Seite diejenigen, die von der Richtigkeit der bisherigen Analysen und der entsprechenden Maßnahmen ausgehen, auf der anderen jene, die das alles für falsch und vor allem für ein Manöver zur Einschränkung von Freiheiten und Bürgerrechten halten. Beide Seiten wähnen die Wissenschaft jeweils hinter sich. Beide werfen sich gegenseitig vor, Verschwörungstheorien anzuhängen und wissenschaftsfeindlich zu sein. Wird Wissenschaft zunehmend zu einer Glaubensfrage? Leben wir in einem Klima der Wissenschaftsfeindlichkeit? Diese Fragen haben Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamen Logbuch mit ihren Gästen Prof. Dr. Andrea Geier und Prof. Dr. Valentin Groebner besprochen.
"Verschwörungsmythen werden viel zu oft wiederholt, statt sie einzuordnen"
Zimmerer: In den ersten Wochen der Coronakrise wurde Deutschland dafür gelobt, eine wissenschaftsaffine Kanzlerin zu haben und die Virologen wurden zu Stars. Nun mischen sich immer mehr Verschwörungstheorien darunter. Wie ist das zu erklären, wer sind die Leute, die diese verbreiten und was bezwecken sie damit? Und was bedeutet das für die Pandemiebewältigung und letztendlich für die Demokratie?
Groebner: Als Historiker bin ich eigentlich vor allem für die Vergangenheit zuständig - und als Österreicher, der seit langem in der Schweiz lebt, bin ich mit den spezifischen deutschen Befindlichkeiten nicht so vertraut. Verschwörungstheorien sind eine Reaktion auf unübersichtliche Situationen, in denen sehr viel offen und unklar ist. Sie vereinfachen und reduzieren Fremdes auf vertraute Muster und Akteure.
Zimmerer: Ist dann das, was ich beschrieben habe, ein deutsches Phänomen oder gibt es das auch in Österreich und in der Schweiz?
Groebner: In Zürich gab es letztes Wochenende eine Demonstration, die eine recht genaue Kopie der Berliner Auftritte vor der Volksbühne war - inklusive der bizarren Bezüge auf Bill Gates und die Impfgegner. Das ist alles, wovon ich im Moment weiß. Am selben Abend fand am Genfersee eine unbewilligte spontane Party von Jugendlichen statt, die mehrere hundert Personen stark war und sehr aggressiv (und erfolgreich) gegen polizeiliche Versuche vorging, die Versammlung aufzulösen. Das könnte auch eine Art Gegenöffentlichkeit sein - oder? Nur ist das eben ein neues Phänomen, im Gegensatz zu den Impfgegnern.
Geier: Auch mein Eindruck ist, dass die Debatte sich verändert hat. Allerdings weiß ich nicht, ob ich sagen würde, dass sich mehr Verschwörungsmythen - und so würde ich sie lieber nennen - daruntermischen. Bekommen sie nicht einfach viel mehr Aufmerksamkeit?
Zimmerer: Guter Punkt: Warum dann jetzt mehr Aufmerksamkeit?
Geier: Ein Punkt dürften eingespielte Mechanismen der Berichterstattung sein. Wir haben immer wieder so Pendelbewegungen, dass nun "der anderen Seite" mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse. Das führt allerdings zu einer Schieflage in dem Fall: Die Verschwörungsmythen werden viel zu oft wiederholt, statt sie einzuordnen.
Groebner: Deswegen beziehen sich Medien und Verschwörungstheoretiker auch so intensiv aufeinander: Sie erzeugen Aufmerksamkeitsspiralen.
Geier: Ja. Und wenn man sich fragt, was Verschwörungsmythen überhaupt attraktiv macht: Sie leisten eine Komplexitätsreduktion. Die Frage ist aber doch: Welchen Mythen schenken wir öffentlich Aufmerksamkeit? Wie viel Raum gibt man absurden Aussagen? Es gibt Leute, die denken, dass die Erde eine Scheibe ist. Brauchen wir dazu Berichterstattung pro und contra? Offensichtlich wäre das albern. Insofern muss man fragen, welche Art von Berichterstattung angemessen ist. Die Berichterstattung über die sogenannten "Anti-Corona"-Demonstrationen zurzeit könnte beispielsweise viel neutraler sein, einordnend, anstatt mit O-Tönen zu arbeiten und auf diese Weise die abstrusesten Aussagen immer nochmal weiter zu verbreiten. Natürlich soll man sich damit befassen, dass es Phantasien über Weltregierungen etc. gibt, aber die müssen nicht in jeder Nachrichtensendung wiederholt werden.
Zimmerer: Und Social Media bestärkt dies noch.
Geier: Oh, das beliebte Social Media-Bashing. :) Dazu hätte ich ja einiges zu sagen...
Zimmerer: Das ist ja kein ungerechtfertigtes und pauschales Bashing, aber dass das Netz auch ein Tummelplatz kruder Ideen und bietet die Möglichkeit, sie zu artikulieren, lässt sich ja nicht bestreiten.
Geier: Das stimmt. Das ist ein Tummelplatz für krude Idee. Und kann zugleich ein Ort der Auseinandersetzung und Aufklärung sein. Beides.
Zimmerer: Aber letzteres ist nicht problematisch. Ersteres schon.
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