Der niederländische Historiker Johan Huizinga definierte Geschichte als "die geistige Form, in der eine Kultur sich Rechenschaft ablegt über ihre Vergangenheit." Demnach ließe sich mit Blick auf den Nationalsozialismus fragen, welche Bedeutung die NS-Vergangenheit für das Selbstbild in Deutschland hatte und hat. Das Lexikon der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland ist genau von dieser Frage geleitet. Darin werden weniger konkrete Ereignisse der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit untersucht, sondern vielmehr die Frage, wie über das Nazi-Erbe in Deutschland in den vergangenen 70 Jahren debattiert wurde und wie es beispielsweise in Filmen und Kunst thematisiert wird. Gut acht Jahre nach seiner erstmaligen Publikation ist es nun bereits in der dritten Auflage erschienen. Grund für uns nachzufragen, was eine Neuauflage sinnvoll gemacht hat und welche Inhalte neu hinzugekommen sind. Die Herausgeber Matthias Lorenz und Torben Fischer haben unsere Fragen beantwortet.
"Der Akzent der Artikel liegt auf der Frage, wie die NS-Vergangenheit verhandelt wurde"
L.I.S.A.: Herr Professor Lorenz, Herr Fischer, zuletzt ist das von Ihnen herausgegebene „Lexikon der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945“ bereits in der dritten Auflage erschienen. Bevor wir konkret auf die überarbeitete und erweiterte Auflage zu sprechen kommen, ein Blick auf die Konzeption des Lexikons insgesamt: Was heißt hier Debatten- und Diskursgeschichte? Um welche von wem geführten Debatten und Diskurse geht es dabei? Welche Akteure nehmen Sie in den Blick?
Fischer/Prof.Lorenz: Der Ansatz des Lexikons ist ein integrativer. Es ging uns darum, wichtige Debatten, Ereignisse und langfristige Entwicklungen der Nachgeschichte des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik in den Blick zu nehmen, ohne diesen z.B. auf das Handeln politischer Akteure, auf die Rechtsgeschichte oder aber die großen Mediendebatten zu verengen. Zu all diesen Themen gab es vor nunmehr bereits über zehn Jahren, als die konzeptionellen Vorarbeiten für das Lexikon begannen, bereits gute wissenschaftliche Studien, wo dies nachzulesen war. Was nach unserer Wahrnehmung aber fehlte, war ein solides Nachschlagewerk, in dem man sich über wissenschaftliche, künstlerische, juristische, politische und mediale Entwicklungen und Debattenkonjunkturen gleichermaßen kundig machen konnte. Mit diesem bewusst breiten Ansatz war und ist natürlich dezidiert auch die Hoffnung verbunden, in der Zusammenschau so unterschiedlicher Dinge wie den NSU-Morden, den institutionengeschichtlichen Debatten etwa um das Auswärtige Amt oder aber der entstehenden Erinnerungskultur in den Neuen Medien (um Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zu nennen) über die einzelne Einträge hinaus ein Panorama dieser Nachgeschichte entstehen zu lassen.
Erklärtes Ziel war es dabei, implizite Entwicklungstendenzen, Themenkonjunkturen, Muster und Rahmungen der Aussagen und Debatten erkennbar werden zu lassen. Viele Einträge sind zunächst einmal ereignisgeschichtlich ausgelegt – etwa die Lemmata zu den großen Nachkriegsprozessen oder aber etwa zur Reeducation oder exponierten Debatten wie jener um das Holocaust-Mahnmal – der Akzent der Artikel liegt aber neben der Rekonstruktion von basalen Informationen und Debattenabfolgen zumeist auch auf der Frage, wie die NS-Vergangenheit in der Debatte, dem Gesetzestext oder dem Kunstwerk verhandelt wurde, um auch mit sichtbar zu machen, wie sich die Regeln des Sprechens, Schreibens und Nachdenkens über diese Vergangenheit verändert haben. Daneben gibt es schließlich eine Reihe von Einträgen, die explizit auf diese Rahmungen des Diskurses hin ausgerichtet sind – etwa wenn so folgenreiche Figuren und Konstellationen wie der Mythos der „Stunde Null“ oder aber „Dresden 1945“ in Artikel aufgearbeitet werden.