L.I.S.A.: Schaut man sich die Debatten- und Diskursgeschichte zur NS-Vergangenheit an, was hat sich dabei verändert bzw. verschoben? Wo sehen Sie Marksteine dieser besonderen Debatten- und Diskursgeschichte? Welche Debatten haben möglicherweise auch zu qualitativen Verschiebung im Koordinatensystem aus Ursache, Wirkung und Erklärung geführt? Wie steht es dabei um Täter- und Opferperspektiven?
Fischer/Prof.Lorenz: Die durchaus ungewöhnliche und mit fast einem Jahrzehnt Abstand zur Erstauflage lediglich behutsam weiterentwickelte Anlage unsere Lexikons versucht genau dies abzubilden: Was wurde wann diskutiert, wie konnte man über die NS-Vergangenheit zu welcher Zeit reden, schreiben, forschen – und was war eigentlich gemeint, wenn vom Nationalsozialismus die Rede war? Die zeitlichen Zäsuren, die das Lexikon über die Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 diesbezüglich setzt, orientieren sich dabei an ganz unterschiedlichen Marksteinen der Aufarbeitung.
Die Frühphase 1945 bis 1949 ist geprägt vom unmittelbaren Erleben des Kriegsendes und von der alliierten Herrschaft in den vier, später nur noch zwei besetzten Zonen auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches. Reeducation und Entnazifizierung werden verordnet, erste Reflexionen bei Opfern wie Tätern lassen das Geistesleben nach zwölf Jahren Diktatur wieder langsam erwachen. Dabei ist deutlich, dass der ‚im Osten‘ verschleierte Holocaust die Deutschen angesichts der sichtbaren Zerstörungen im eigenen Land noch kaum umtreibt. 1949 werden beide deutschen Staaten gegründet, die meisten Verantwortlichkeiten werden wieder an die souverän gewordenen deutschen Regierungen abgetreten. Entsprechend können etwa die Funktionseliten vor allem im Beamtenapparat ihre Karrieren fortsetzen und die von den Alliierten suspendierten Altverleger drängen auf den Markt zurück. Die junge Bundesrepublik muss sich den deutschen Verbrechen jedoch stellen, um international hoffähig zu werden. So werden erste Entschädigungsgesetze erlassen, einige Prozesse geführt und staatliche Initiativen der Aufarbeitung lanciert. Zugleich prägen skandalöse Amnestien, Rechtfertigungsschriften, personelle und auch ideologische Kontinuitäten das politische Leben in Westdeutschland, wobei gerade diese erste Nachkriegszeit, aber auch die 1950er Jahre nicht vorschnell und im Sinne einer linearen Fortschrittsgeschichte ausschließlich als die Phase des „großen Beschweigens“ missverstanden werden sollten.
Anfang der 1960er Jahre treten aufsehenerregende Einzelinitiativen eine neue Hinwendung zu den NS-Verbrechen los und rücken die Täter ins Licht der Aufmerksamkeit: 1961 steht Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht, ab 1963 Personal aus dem Vernichtungslager Auschwitz in Frankfurt am Main. Die Überlebenden der Lager legen vor einer globalen Medienöffentlichkeit Zeugnis ab; zahlreiche Theaterstücke, Filme, literarische und wissenschaftliche Texte, aber auch geschichtsdidaktisch motivierte Ausstellungen entstehen in den Folgejahren und arbeiten den juristischen Diskurs auf. Der Fokus der Auseinandersetzung liegt klar auf der Dokumentation der Verbrechen, die Stimmen der Opfer finden kaum Gehör außerhalb der Gerichtssäle.
Um 1967/68 sucht eine junge Generation Antworten auf die Frage nach der Schuld ihrer Eltern. Ein Generationenkonflikt entspinnt sich, der sich zum Teil durch harsche Konfrontation und Verständnisunwillen auf beiden Seiten auszeichnet. Durch die Wahl des ehemaligen Widerstandskämpfers und Remigranten Willy Brandt zum Bundeskanzler und die von ihm forcierte Neue Ostpolitik der SPD, die ein plakatives Schuldeingeständnis mit umfasst, zeigt die Bundesrepublik innen- wie außenpolitisch ein neues, geschichtsbewussteres Gesicht. Zugleich werden die Chiffren „Auschwitz“, „Faschismus“ und „Nazis“ im Kontext einer allgemeinen Kapitalismuskritik und des Generationenkonfliktes von den konkreten historischen Geschehnissen abgelöst. Tatsächlich erweisen sich die 1970er Jahre zunehmend als geschichtsvergessener als das vorangegangene Jahrzehnt, in dem die Aufarbeitung noch als wichtiger Bestandteil eines weit verbreiteten linken Selbstverständnisses fungierte.
Erst 1979 mit der Ausstrahlung der Holocaust-Fernsehserie gelingt es wieder, weite Bevölkerungsteile für die NS-Vergangenheit zu interessieren und erstmals auch auf breiter Basis für das Schicksal der Juden im Holocaust zu sensibilisieren. Ab der Ausstrahlung von Holocaust wird deutlich, dass massenmediale und kulturindustrielle Narrative deutlichen Einfluss auf die kollektive Konstruktion der Vergangenheit haben, eine Erkenntnis, die am Ende dieses Zeitabschnitts anderthalb Jahrzehnte später Steven Spielbergs Kinodrama Schindler’s List noch einmal eindrücklich unter Beweis stellen wird. Einmal mehr wird kontrovers debattiert, ob und wie das Grauen von Auschwitz dargestellt werden kann und darf.
1995 entbrennt im wiedervereinigten Deutschland eine ganz andere Debatte: Die Hamburger Wehrmachtsausstellung popularisiert gegen größte Widerstände das Expertenwissen um die Verstrickung ‚ganz normaler‘ Wehrmachtssoldaten in den Vernichtungskrieg gegen Juden und Slawen. In dem halben Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende folgt dieser Initialzündung in hoher Frequenz eine Kontroverse um die NS-Vergangenheit auf die nächste: Die Goldhagen-Debatte, die Walser-Debatte und die Berliner Mahnmals-Debatte sind nur die prominentesten unter vielen erbitterten Kontroversen, die außerhalb Deutschlands oft weit weniger Beachtung finden. Stets geht es um die Deutungshoheit über die Vergangenheit, um die Frage, ‚wer wir waren‘ und damit, wer die Deutschen heute sind oder sein wollen.
Die Erregtheit der späten neunziger Jahre wirkt genauso wie die Konjunktur problematischer deutscher Opfernarrative um die Jahrtausendwende heute bereits wieder historisch. Enthüllungen wie die von Günter Grass’ Waffen-SS-Mitgliedschaft wurden Mitte des ersten Jahrzehnts deutlich unaufgeregter bearbeitet, die Erkenntnis einer gesamtgesellschaftlichen Verstrickung von Personengruppen, Institutionen, Firmen und Verbänden setzt sich mit der systematischen Erforschung von Großunternehmen, Ämtern, wissenschaftlichen Disziplinen und Initiativen zunehmend durch. Blickt man auf die Gegenwart, so wäre zu fragen, ob der Nationalsozialismus noch in vergleichbarer Weise wie in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik als Fluchtpunkt nationaler Selbstverständigungsdebatten dient oder ob er nicht angesichts gegenwärtiger globaler Krisen als konstitutives Element der bundesrepublikanischen Kultur an Bedeutung verliert.