Die anhaltenden Proteste in Lateinamerika sind aus der aktuellen Berichterstattung so gut wie verschwunden. Auch als noch im vergangenen November häufiger berichtet wurde, ist eine Gruppe Protestierender dabei kaum berücksichtigt worden: Frauen. Tatsächlich sind es aber vor allem Frauen, die sich an Demonstrationen und Aktionen gegen die bestehenden Verhältnisse in Chile, Argentinien oder Peru beteiligen. Das hat Tradition in Lateinamerika, wo sich Frauen als besonders stark politisierte Gruppe schon seit Jahren gegen soziale Missstände, ungesühnte Verbrechen der Diktaturen und nicht zuletzt gegen Misogynie und Feminizide öffentlich engagieren. Wir haben dazu der Lateinamerika-Historkerin Prof. Dr. Barbara Potthast von der Universität Köln unsere Fragen gestellt.
"Eine tief sitzende Unzufriedenheit mit den Regierenden"
L.I.S.A.: Frau Professor Potthast, in mehreren lateinamerikanischen Gesellschaften kommt es seit mehreren Wochen zu anhaltenden Protesten. Die politische Lage ist in einigen Staaten instabil und nicht immer klar überschaubar. So unterschiedlich und spezifisch die jeweilige Situation ist, gibt es trotzdem so etwas wie einen gemeinsamen Nenner der relativ zeitnah aufkommenden Unruhen in Lateinamerika?
Prof. Potthast: Die Proteste haben zwar in jedem der Länder einen anderen spezifischen Kontext und Auslöser, sie spiegeln jedoch insgesamt eine tief sitzende Unzufriedenheit mit den Regierenden, die aus der Sicht breiter Kreise der Bevölkerung nicht willens oder fähig sind, grundlegende Probleme anzugehen. Diese betreffen vor allem die soziale Ungleichheit und Armut, aber auch Korruption und intransparente Regierungspraktiken. Die Proteste zeigen ferner, dass demokratische Werte und ein Bewusstsein von den staatsbürgerlichen Rechten aller Bevölkerungsschichten in Lateinamerika inzwischen gut verankert sind. Solche Rechte werden nun aufgrund neuer Kommunikationsmöglichkeiten durch die Sozialen Medien schneller öffentlich artikuliert und koordiniert, und sie mobilisieren auch Personen jenseits der traditionellen Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften.