L.I.S.A.: Joseph Beuys‘ Kunst ist eine Auseinandersetzung mit dem Menschen als verwundbares Wesen, zu dessen existentiellen Erfahrungen Schmerz, Leid und der Tod gehören. Die Kunst sieht er dabei als Kraft, den Menschen von diesen Bürden zu befreien, ihn gar zu erlösen. Weiter noch: Die Auseinandersetzung mit Kunst führt zur Wiederauferstehung des Menschen. Das erinnert doch sehr an religiöse bzw. christliche Motive. War Beuys so gesehen ein christlicher Künstler? Oder ist die Ausrichtung seiner Vorstellung von Kunst und seines künstlerischen Schaffens eher als anthropozentrisch zu begreifen?
Prof. Christophersen: Beuys vertritt die Ansicht, dass der Mensch über die chronologisch messbare Zeit hinaus mit Vergangenheit und Zukunft verbunden ist, dass sich das Leben nicht auf die Strecke zwischen Geburt und Tod festlegen lasse, sondern sich Überschreitungsprozesse ereignen, die selbst mit dem Begriff der Intuition nur unzureichend erfasst werden. Der Mensch erzeugt seine eigene Zeit, die das Bewusstsein in jeweils unterschiedlicher Form wahrnimmt und eben auch formt. Es handele sich um einen kreativ-schöpferischen Moment, den die Zeit besitze. Ihr eigentliches Wesen blieb allerdings auch für Beuys ein Geheimnis – „Was ist denn nun mit der Zeit?“, fragte er noch in den 1980er Jahren mit gewisser Dringlichkeit.
Beuys war der Meinung, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich ist und er nicht einfach seine Probleme an einen Gott weiterreichen könne. Friedrich Nietzsches Satz „Gott ist tot“ war dabei ein Leitmotiv. Vom Gedanken an eine Auferstehung wollte Beuys allerdings nicht ablassen, nur sah er sie im Menschen selbst angelegt, der aus sich heraus den Neubeginn setzen müsse. Uneingeschränkte Diesseitigkeit ist für Beuys die Pointe der Inkarnation. Aber ganz ohne Christus geht es nicht. Wissenschaften und Materialismus, davon war Beuys überzeugt, hätten den Menschen von sich selbst entfremdet. Dieser Zustand müsse verändert werden. Genau hier setze seine Arbeit an. Entscheidend sei es, sich in die Christus-Rolle hineinzuversetzen. Nicht Gott gestaltet entsprechend die Zukunft, sondern der Mensch, der sein eigenes Potential ausschöpft. Aus der Theologie wird bei Beuys somit Anthropologie. Der Mensch befindet sich in einem konsequenten Erkenntnisprozess, der ihn weiter und weiter voranbringt. In dieser Einsicht steckt schon ein ausgeprägter Optimismus. „Es hilft uns jetzt kein Gott mehr; wir müssen selber Götter werden“, hat Beuys einmal im Gespräch mit seinem Schüler Anselm Kiefer formuliert. Da ist er dann wieder sehr dicht bei Nietzsche.
Von Rudolf Steiner übernahm Beuys die Formulierung „Christus-Impuls“, um die Kraft zu benennen, die es dem Menschen möglich macht, dem ihn existenziell bedrohenden Materialismus entgegenzutreten. Der Mensch komme nicht umhin, sich Tod, Vernichtung, Zerstörung zu stellen. Er müsse ungeschützt hineinschauen in die Abgründe des Materialismus, für die in paradoxer Weise die Wissenschaft verantwortlich zeichnet, wenn sie den Blick des Menschen einengt auf eine rein „instrumentelle Vernunft“, wie Max Horkheimer es nennt. Also auch hier gilt für Beuys wieder: durch die Konfrontation mit dem Tod zu neuem Leben. Der Hase, das in die Welten des Mythos hineinreichende Auferstehungssymbol, mit dem sich Beuys identifizierte, schafft den Aufbruch ja schließlich auch, wenn er sich in die Erde eingräbt, um dann plötzlich wieder fröhlich und hakenschlagend davon zu rennen.
Beuys war immer und überall auf Dialog ausgerichtet. Sogar das Museum, das nun einmal für jede Künstlerin, jeden Künstler eine nicht zu ignorierende Konstante darstellt, hatte er gegen allen Anschein des Verstaubten als lebendigen Ort „permanenter Konferenz“ beschrieben. Es gehe hier um nichts weniger als die Menschheitsgeschichte auf ihrem Weg durch die Vergangenheit und die kritisch zu formende Gegenwart in die Zukunft. Der Gedanke lässt sich auch auf das Verhältnis von Gott, Christus und Mensch übertragen. Sie begegnen sich auf Augenhöhe. Fast mag der Eindruck entstehen, es ereigne sich ein „herrschaftsfreier Dialog“ im Sinne der Diskurstheorie. Die geführten Auseinandersetzungen gelten dem Leben in dieser Welt, sie aktualisieren sich jeweils im gegebenen Moment, der, wenn wir nur genau genug hinschauen, hinreichend an seiner eigenen Plage zu tragen hat. Die Verwundbarkeit des Menschen lässt sich nicht aufheben. Sie ist für Beuys eine anthropologische Konstante. Der Schmerz lässt sich lokalisieren, beschreiben, thematisieren, aber verschwindet nicht.
Persönlich fasziniert mich in diesem Zusammenhang der Umgang mit der Musik, die für Beuys ein zentrales Ausdrucksmittel ist, selbst, wenn sie nicht erklingt – etwa im Falle eines eingehüllten Flügels, der seine Klangwelten in sich bewahrt. Provokant und wegweisend zugleich war hier Beuys‘ „Infiltration Homogen für Konzertflügel, der größte Komponist der Gegenwart ist das Contergankind“ vom Juli 1966 in der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf: „Das Leiden / Die Wärme / Der Klang / Die Plastizität“ – ein großer Flügel, in Filz verpackt, unspielbar. Ein „Gegenraum“ wird erzeugt, der im Rezipienten Empfindungen auslösen kann, die zu „Gegenbildern“ werden. „Der Schmerz des Menschen ist doch in der Erkenntnis zu definieren, und damit man in der Erkenntnis weiterkommt, bedarf es eines dauernden Schmerzes“, bemerkte Beuys prägnant im Dialog mit Enzo Cucchi, Anselm Kiefer und Jannis Kounellis. Dieser fortwährende Zustand betrifft nicht nur isoliert die eigene Biographie, sondern ist ebenfalls ein Moment der Geschichte, wie Beuys in seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit Auschwitz dokumentiert. Der Schmerz erhält die Funktion eines hermeneutischen Schlüssels, mit dem es möglich ist, sich in Reflexion der eigenen Wahrnehmungsmuster den historischen Ereignissen und ihren fortdauernden Wirkungen zu stellen – auch hier individuell wie gesellschaftlich. „The human condition is Auschwitz“ – so Beuys der Kunstkritikerin und Freundin Caroline Tisdall gegenüber.