Die vorherrschende Wirtschaftslehre in Deutschland lautet verkürzt in etwa so: "Nicht mehr Geld ausgeben, als man hat. Schulden vermeiden, Kosten senken, Überschüsse erwirtschaften. Steuern so niedrig halten, wie möglich. Der Markt findet immer die besseren Lösungen." Die Wirtschaftsdaten des Landes scheinen diese Lehre zu bestätigen: Überschüsse, Schwarze Null, sinkende Arbeitslosigkeit - um nur ein paar ökonomische Indikatoren zu nennen, die gerne in Politik und Medien aufgezählt werden. Und trotzdem gibt es Zweifel an der herrschenden Theorie und Praxis. So zum Beispiel von dem Volkswirt und früheren Dozenten an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin, Dr. Axel Stommel, der zuletzt ein Buch über die Grundlagen der Ökonomie veröffentlicht hat und darin die bestehende Wirtschaftslehre auf den Prüfstand stellt. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Hier entscheidet die ideologische Überzeugung, nicht die ökonomische Realität"
L.I.S.A.: Herr Dr. Stommel, Sie haben jüngst ein Buch mit dem Titel „Basics der Ökonomie“ veröffentlicht. Bereits auf dem Cover wird versprochen, herrschende Lehren auf den Prüfstand zu stellen. Das fordert natürlich zu folgender Frage heraus: Was ist denn die gegenwärtig herrschende Lehre? Und wer sind die Verfechter der herrschenden Lehre - insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften?
Dr. Stommel: Die herrschende ist die klassische/neoklassische Lehre. In dieser Lehre lösen isolierte wirtschaftliche Akteure individuelle Optimierungsprobleme. Auf Märkten treten sie miteinander in Beziehung. Über die Preise transformieren die Märkte die individuellen Lösungen wie von „unsichtbarer Hand“ (Adam Smith) in gleichgewichtige, im kollektiven Interesse liegende Ergebnisse. Auf diesen Märkten gibt es keine Informationsmängel, keine Herrschaftsverhältnisse, keine Armen, keine Reichen; Staat und Gewerkschaften tauchen allenfalls als ärgerliche Störgrößen auf, als notorische, freilich immer seltsam stumme Störenfriede.
Eine strukturell, also grundsätzlich angelegte unzureichende Nachfrage kennt diese Lehre nicht; unausgesprochen hält sie am Say’schen Theorem fest, demzufolge sich jede Produktion ihre Nachfrage selber schafft. Verteilungsfragen sind ihr aus diesem Grund kein Thema. Vielmehr gilt dieser Theorie schon das bloße Bedenken von Verteilungsfragen als „reines Gift“, wie es einer ihrer führenden Vertreter, der Ökonomie-Nobelpreisträger Robert E. Lucas, in dankenswerter Klarheit formuliert hat.[1] Ähnliches gilt ihr für die Beschäftigung mit Krisen – es gebe „nichts Langweiligeres“, warnt Lucas in seiner Eigenschaft als Präsident der American Economic Association auf deren Jahrestagung und verkündet noch kurz vor der letzten globalen Krise von 2007ff. in seiner Eröffnungsrede triumphal: „Das zentrale Problem der Vermeidung von Depressionen ist gelöst“.[2]
Statt sich also mit Verteilungsfragen und Krisen zu beschäftigen, gefällt sich die herrschende Lehre darin, formal ausgereifte, möglichst elegante mathematische Modelle höchster Komplexität zu schmieden, aus denen alsdann jedoch unvermittelt höchst konkrete wirtschaftspolitische Handlungsanweisungen, Maßnahmen und Prognosen abgeleitet werden. Dass ihre Maßnahmen nicht bzw. nicht in der prognostizierten Weise wirken, ignoriert sie großzügig; dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, volkstümlich „die fünf Wirtschaftsweisen“ genannt und durchweg mit Vertretern der herrschenden Lehre besetzt, war es vergönnt, die dazu passende, nachgerade kanonische Verfahrensregelung zu verkünden: Die „abgeleiteten Schlussfolgerungen für die Wirtschaftspolitik werden nicht schon dadurch hinfällig, dass sich die Prognose später nicht bestätigt hat.“[3]
Das heißt in letzter Konsequenz: Dieser Theorie ist die Realität nicht gewachsen; die Wirklichkeit kann ihr nichts anhaben, denn diese Wissenschaft steht über der Wirklichkeit (Hans Albert nannte das „Modellplatonismus“[4]). Wo immer die beiden, Theorie und Wirklichkeit, einander verfehlen, da liegt es an der Wirklichkeit, die sich in unverantwortlicher, undisziplinierter Weise nicht theoriekonform verhält. Hier entscheidet die ideologische Überzeugung, nicht die ökonomische Realität. In dieser Haltung degeneriert die herrschende, neoklassische Theorie zu einem „Glasperlenspiel“ (Hermann Hesse), d.h. zu einem hoch intellektuellen, strengen und komplizierten Regeln folgenden, durch und durch unkreativen Hantieren wohldotierter, abgeschotteter, elitärer Spezialisten mit ökonomischen Klischees nach Art des homo oeconomicus. Dass dabei mitunter trotzdem auch Brauchbares, Realitätsgerechtes ermittelt wird, gehört zum Spiel. Sonst nämlich wäre es zu leicht als bloße Ideologie, als einfach nur falsches Spiel zu durchschauen – schließlich enthält jede Irrlehre auch Richtiges; wie sonst könnte sie als Irrlehre bestehen? Das vereinzelte Brauchbare vom durchweg Ideologischen, laufend neu hervorgebrachten Unbrauchbaren zu unterscheiden, ist eine ständige Herausforderung.
Die herrschende Wirtschaftslehre wurde namentlich von Friedrich von Hayek als Gegenposition zum Keynesianismus gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts entwickelt; seit den 1970er Jahren konnte sie sich nach und nach weltweit als herrschende Lehre durchsetzen. In den Vorlesungsverzeichnissen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und Institute dieser Welt findet man die lange Liste ihrer Vertreter. In der praktischen Wirtschaftspolitik sind sie dagegen grundsätzlich nicht anzutreffen. Auch das ist ein deutlicher Indikator für die praktische Untauglichkeit, ja die entrückte Wirklichkeitsferne der herrschenden Lehre. In Deutschland beispielsweise ist demgemäß seit Karl Schillers Tagen kein durch universitäre Berufung, Forschung oder Lehre ausgewiesener Ökonom mehr zum Bundeswirtschaftminister ernannt worden (stattdessen ein Müllermeister, ein Militär-Augenarzt, ein Landesweinbauminister, ein Deutschlehrer sowie zwei Juristen und eine Juristin, die Letztgenannten jeweils einmal mit, einmal ohne sowie einmal mit erschwindelter Doktorwürde, um es beim jüngsten, gefühlten halben Dutzend zu belassen).