L.I.S.A.: Die zweite These, die Sie in Ihrem Buch verfolgen, geht auf ein Buch des französischen Soziologen Henri Lefebvre zurück: "Das Recht auf Stadt" aus dem Jahr 1968. Demnach sei eine Stadt, entgegen den modernen Verwertungslogiken des Kapitalismus, ein Ort der kreativen Schöpfung bzw. ein Ort, in dem alle ein gesamtgesellschaftliches Anrecht auf den im Urbanisierungsprozess erzeugten Mehrwert haben: auf kulturelle und intellektuelle Produktionen, auf eine soziale Infrastruktur, auf gemeinsam zu gestaltende Räume. Inwiefern trifft diese These auf die Geschichte der Stadt zu? Könnten Sie ein früheres und ein jüngeres Beispiel nennen, bei dem der Mehrwert der Stadt auf alle Bewohner verteilt wurde bzw. zumindest der Anspruch darauf bestand?
Dr. Fuhrmann: Auch in früheren Jahrhunderten, in denen es theoretisch einen absoluten Herrscher gab, kann man meines Erachtens ein Stück weit das Aushandeln der Verteilung des Mehrwerts zwischen Herrscher und Beherrschten nachvollziehen. Beispielsweise hat uns Cemal Kafadar auf die Rolle der Janitscharen aufmerksam gemacht. Während sie im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert eine aus den christlichen Untertanen rekrutierte Elitetruppe bildeten, stellten sie im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert – angesichts ausbleibendem Sold und der Notwendigkeit des Nebenerwerbes – eher eine städtische Unterschicht dar, die beispielsweise als Bäcker oder Metzger ihr Geld verdienten. Zuziehende aus der Provinz schlossen sich ihnen an, um von ihrem solidarischen Netzwerk zu profitieren. Mitunter diente die Einschreibung in die Soldlisten der Janitscharen auch schlichtweg der „Erschleichung“ staatlicher Leistungen, also einer eigenmächtigen und eigensinnigen Umverteilung.
Laut Kafadar dienten die zahlreichen Revolten der Janitscharen zwei übergeordneten Zielen. Einerseits emanzipierten sie sich von der ihnen zugedachten Rolle der bedingungslos ergebenen Sklaven zu Vertragspartnern des Sultans, der ihre Loyalität durch regulären Sold, Verpflegung und Prämien erkaufen musste. Ferner nahmen sie für sich das Recht heraus, institutionell die Allmachtbestrebungen oder den Amtsmissbrauch des Sultans oder seiner hohen Beamten durch deren Absetzung und eventuell Hinrichtung in Schach zu halten.
Besondere Beachtung gebührt dem Janitscharenaufstand von 1703 (türkisch: Edirne Vakası). Der Protest formierte sich gegen ausstehenden Sold, Korruption, den Frieden von Karlowitz und die Tatsache, dass der Hof fern von Istanbul in Edirne hauste, so dass das Istanbuler Gewerbe nicht von den Aufträgen des Hofes profitieren konnte. Der Aufstand wurde von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen. Herausragend waren die revolutionäre Disziplin und die demokratische Kultur avant la lettre. Nichtmuslimische Zeitzeugen wie beispielsweise Dimitri Cantemir berichten, dass die Aufständischen im Gegensatz zu anderen Ausnahmesituationen sich nicht an den Ausländer*innen und Nichtmuslim*innen vergriffen und außerdem auf dem Marsch der Armee nach Edirne zur Absetzung des Sultans unterwegs den Bauern nicht einmal ein Huhn raubten. Die Aufständischen gaben sich eine Revolutionsregierung: Der neue Kadi von Istanbul, der Scheich-ül Islam (Mufti/oberster Religionsgelehrter) und der neue Oberbefehlshaber der Janitscharen, Çalık Ahmed Ağa, wurden durch öffentliche Diskussion und Akklamation gewählt. Çalık Ahmed Ağa soll sogar laut dem Chronisten Naima dafür plädiert haben, die osmanische Dynastie ganz abzusetzen und Entscheidungen durch eine Volksversammlung (cumhur cemiyeti) zu treffen, wie es angeblich die Janitscharen in Algiers und Tunis taten. Die Bewegung setzte den Sultan und seine hohen Beamten ab und erzwang die Rückkehr des Hofes nach Istanbul – fast neunzig Jahre, bevor die Bourbonen zur Rückkehr aus Versailles nach Paris gezwungen wurden. Die Anführer von 1703 wurden aber im Anschluss auf Geheiß des neuen Sultans ermordet.
In neuerer Zeit sticht sicher der Gezi-Aufstand heraus. Aus Protest gegen den menschenverachtenden Stadtumbau, die Intoleranz der AKP gegen von ihrem Weltbild abweichende Lebensstile und Justiz- und Polizeigewalt zwang eine noch nie dagewesene Menschenmenge die Polizei im Sommer 2013, sich vom Taksimplatz und insbesondere dem angrenzenden Gezi-Park zurückzuziehen. Im Park, der nun von Tausenden besetzt und von Hunderttausenden, wenn nicht Millionen aufgesucht wurde, herrschte nun ein rechtsfreier Raum, den die dortigen Menschen nach dem Prinzip der Commons gestalteten: Trotz der riesigen Menschenmassen wurden Essen, Medikamente und Gasmasken gegen das von der Polizei exzessiv verwendete Gas gespendet. Müll einsammeln, Feuer löschen, Streit schlichten, Wache halten geschah ausschließlich durch freiwilligen Einsatz. Von weltrenommierten Künstler*innen bis hin zu neu entfesselten jungen Talenten spielten, tanzten, komponierten, sprühten und designten zahlreiche Menschen für Gezi. Entscheidungen wurden basisdemokratisch in sogenannten Foren getroffen. Leider kam dieses Experiment nach 14 Tagen durch Polizeigewalt zu einem Ende. Die Aktivist*innen wurden durch Gerichtsverfahren, Terror- und Verschwörungsvorwürfe diskreditiert, so dass dieser Aufbruch in eine buntere, tolerantere und kreativere Türkei nicht weiter verfolgt wurde.
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