L.I.S.A.: Abschließend zurück zum Anfang Ihres Buches, genauer zum ersten Satz, in dem Sie Hugo Freiherr von Freytag-Loringhoven, den damaligen Generalquartiermeister, aus seinen 1923 erschienenen Memoiren folgendermaßen zitieren: "Hinsichtlich der besetzten Teile Nordfrankreichs ging mein Bestreben (...) dahin, der Bevölkerung ihr hartes Los nicht unnötig zu erschweren." Wie schätzen Sie das nach Ihrer intensiven historischen Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzungspolitik in Nordfrankreich von 1914–1918 ein? Ist der Freiherr von Freytag-Loringhoven seinem Anspruch gerecht geworden? Und: Wie viel hing davon ab, dass man als kriegsführende Macht Besatzer war und nicht Besetzter? Zugespitzt und spekulativ gefragt: Wäre ein französisches oder britisches Besatzungsregime auf deutschem Boden, beispielsweise im Rheinland oder im Saarland, letztlich nicht auch den Kriegslogiken eines Volkskrieges unterlegen gewesen?
Dr. Wegner: Nun, hier äußert sich immerhin der preußische General, unter dessen Entscheidungsgewalt einige der Maßnahmen durchgeführt wurden, die bereits von den Zeitgenossen als ausgesprochen brutal wahrgenommen wurden und auch die Erinnerung an diese Besatzung dauerhaft prägten. Aber nach seiner eigenen Logik ist er diesem Anspruch vermutlich dennoch gerecht geworden. Diese Logik lautete: „Erst Heer, dann Heimat, dann die feindliche Bevölkerung.“ Sein Handeln war streng nach dem Primat der „militärischen Notwendigkeit“ ausgerichtet. Heute wird oft übersehen, dass dieses Primat zwei Seiten hatte: Es forderte einerseits, alles zu tun, was „militärisch notwendig“ war, um einen Krieg zu gewinnen. Andererseits verlangte es aber auch, ausschließlich das zu tun, was als „militärisch notwendig“ erschien. In den Befehlen der militärischen Entscheidungsträger schlug sich dies in der häufigen Anweisung nieder, „unnötige Härten“ zu vermeiden, und es wurde zum Teil ein immenser Aufwand betrieben, als „unnötige Härten“ identifizierte Maßnahmen wieder rückgängig zu machen. „Härten“ an sich wurden im Krieg aber als unvermeidbar angesehen.
Hätten sich Franzosen und Briten als Besatzer während des Ersten Weltkriegs vergleichbar verhalten? Sicherlich gibt es Charakteristika und Vorkommnisse, die in einer Besatzungssituation immer gleich sein werden: Jeder Besatzer wird vermutlich die Sicherheit der eigenen Besatzungstruppen und das Wohl der eigenen Bevölkerung über die Belange der besetzten Menschen stellen. Auch wird es mit Sicherheit immer so sein, dass die Anfangsphase eines Krieges ein besonderes Eskalationspotenzial besitzt. Und wenn sich Zivilisten (tatsächlich oder vermeintlich) am Kampf beteiligen, dann wird es immer zu Massakern an unschuldigen Zivilisten kommen. Aber bei dieser Feststellung würde ich nicht stehen bleiben. Denn welchen Erkenntnisgewinn hat sie? Wenn man nicht einem ahistorischen universalistischen Konzept verpflichtet ist, welches davon ausgeht, dass Gewalt immer und überall ausbrechen kann (wie etwa der Soziologe und Gewaltforscher Wolfgang Sofsky), wird man doch versuchen, alle Faktoren zu bestimmen, die zu einer Gewalteskalation geführt haben. Und dazu gehören nicht nur die situativen Rahmenbedingungen, sondern auch Menschen und ihre Entscheidungen.