Die deutsche Besetzung Nordfrankreichs und anschließende Besatzungszeit während des Ersten Weltkriegs ist mit Gewalt und einzelnen Gräueltaten verbunden. Die Landesteile, die von der deutschen Armee okkupiert waren, wurden wirtschaftlich ausgebeutet und für eigene Zwecke verwertet. In einigen Fällen kam es zudem zu Gewaltexzessen an der Zivilbevölkerung in Frankreich, aber auch in Belgien. Von einem Terrorregime zu sprechen, liegt unter diesen Gesichtspunkten nahe. Die Historikerin Dr. Larissa Wegner hat im Rahmen ihres von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Dissertationsprojekt das deutsche Besatzungsregime in Nordfrankreich auch entlang verfügbarer Quellen der militärischen Institutionen erforscht und kommt dabei zu neuen Ergebnissen. Wir haben ihr unsere Fragen gestellt.
„Die Bevölkerung eines okkupierten Gebiets befindet sich nahezu schutzlos in der Hand des Gegners“
L.I.S.A.: Frau Dr. Wegner, Sie haben sich als Historikerin in Ihrem Dissertationsprojekt mit der deutschen Besatzungspolitik während des Ersten Weltkriegs in Nordfrankreich beschäftigt. Nun liegt das Buch mit dem Titel „Occupatio Bellica“ vor. Bevor wir zu einigen Details Ihrer Arbeit kommen – was hat sie zu Ihrem Thema geführt? Welche Überlegungen und vielleicht auch welche Studien gingen diesem Forschungsprojekt voraus? Welche Forschungslücke wollten Sie schließen?
Dr. Wegner: Grundsätzlich hat mich der Erste Weltkrieg seit Beginn meines Geschichtsstudiums fasziniert. Das hat sicherlich mit der Vielschichtigkeit dieses Krieges zu tun, der ja nicht ohne Grund als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wird. Das war ein Konflikt, bei dem mit unglaublicher Wucht eine neue Welt auf eine alte prallte. Keine Partei war auf diesen ersten modernen Massenkrieg wirklich vorbereitet. Das strategische Denken der militärischen Eliten war noch in der Vorstellung von einem kurzen Bewegungskrieg gefangen. Dabei wurden waffentechnische Weiterentwicklungen unterschätzt, u. a. die verheerende Wirkung von Maschinengewehren und Artillerie, aber auch die wirtschaftliche Dimension. Auf allen Seiten stellte man sich dann im Laufe des Krieges mehr oder weniger erfolgreich auf die neuen Verhältnisse ein. Aber es war ein grausamer Lernprozess mit Millionen sinnloser Opfer, nicht nur unter Soldaten, sondern auch unter der Zivilbevölkerung. Mich interessiert dieser Umbruch in der Kriegführung, insbesondere mit Blick auf das Schicksal von Zivilisten im Krieg. Besatzungen kommt hier eine wichtige Rolle zu, weil sich die Bevölkerung eines okkupierten Gebiets nahezu schutzlos in der Hand des Gegners befindet. Für die Zeit des Ersten Weltkriegs gibt es zahlreiche Forschungsarbeiten, die sich mit einzelnen Aspekten von Besatzung beschäftigen, aber bisher noch keine Studie, die Besatzung – oder genauer: die occupatio bellica, also die temporäre Okkupation von Gebieten während eines Krieges – als Konzept untersucht, d. h. in ihrer Eigenschaft als kriegsrechtliches Normengefüge, wie es sich aus Kriegsbrauch und kodifiziertem Kriegsrecht ergab. Diese Forschungslücke wollte ich schließen.